Unterstützung im Alltag:Der Moment, in dem das Leben durcheinander geriet

Unterstützung im Alltag: Loredan (Mitte) ist manchmal ruhelos. Wenn sich etwas in seiner gewohnten Tagesstruktur ändert, wird er schnell wütend.

Loredan (Mitte) ist manchmal ruhelos. Wenn sich etwas in seiner gewohnten Tagesstruktur ändert, wird er schnell wütend.

(Foto: Catherina Hess)

Loredan lernt gerade den Umgang mit seinem Hund, das fordert und fördert ihn. Er ist entwicklungsgestört und leidet an Autismus. Auch bei Familie F. geriet alles durcheinander, als ihre Drillinge an Krebs erkrankten.

Von Florian Fuchs

Am Ende des Gesprächs setzt sich Kristina F. auf das Sofa und zeigt Fotos. Es sind Fotos von Mädchen, denen bei der Chemotherapie die Haare ausgefallen sind. Es sind ihre Töchter, die kraftlos auf einer Matratze liegen und sich nur langsam wieder erholen. Und dann ist da dieses eine Foto von Ulyana, in einem Kinderbett eines Münchner Krankenhauses: ein blasses Mädchen mit tiefen Augenringen, um das Bett herum zahlreiche Maschinen und Monitore, der Körper des Kleinkinds an elf Infusionen angehängt.

Es war eine schlimme Zeit, die überstanden ist - aber das Leben ist noch lange nicht einfacher geworden. Zu groß sind die Sorgen um die Töchter, speziell um Ulyana. Zusätzlich zu ihren 13 und vier Jahre alten Töchtern haben die Eltern Kristina und Dimitry F. vor drei Jahren Drillinge bekommen: Ulyana, Milana und Eva. Den Eltern war ein bisschen bange während der Schwangerschaft. Ob alles gut geht? Doch dann: Schwangerschaft in Ordnung, Geburt komplikationsfrei. Sie hatten ein schönes Leben in Sibirien, wo sie herkommen, sie hatten ein Haus und gute Jobs als Erzieherin und bei einer Erdölfirma. Doch nach ein paar Monaten tastete die Mutter den Bauch von Milana, weil er so seltsam aussah. Ärzte bestätigten, was sie befürchtete: ein Tumor, in den Nieren.

Zum Glück hatte die Mutter so ein Gefühl

Das Geschwür vergrößerte sich rasch, die Familie musste zur Behandlung nach Moskau, zum Glück hatte die Mutter so ein Gefühl: Wenn einer der Drillinge einen Tumor hat, sollte man dann nicht auch die anderen Mädchen überprüfen? Die Ärzte winkten ab, aber sie setzte sich durch. Schließlich der Schock: gleiche Krankheit, gleicher Tumor, bei allen Mädchen.

Im onkologischen Zentrum in Moskau begannen die Ärzte sofort mit einer Chemotherapie, vier Monate lang. Das stoppte das Wachstum, aber vor einer Operation schreckten die Mediziner zurück. Ein Tumor in der Niere kommt nicht häufig vor, dass der Tumor wie bei allen Mädchen beide Nieren befällt, ist weltweit extrem selten. Also suchten die Eltern im Ausland nach Spezialisten und sammelten im Internet Geld für die teuren Behandlungen ihrer Kinder. In München wurden sie fündig, also kamen sie nach Deutschland. Der Plan war eigentlich, nach der Operation wieder in die Heimat zurückzukehren. Doch daraus wurde nichts.

Die erste Operation von Milana verlief gut, die Ärzte schnitten ein Kilo Tumor aus dem etwa neun Kilo schweren Körper der Einjährigen, konnten aber 30 Prozent der Nierenfunktion erhalten. Bei Eva freuten sich die Eltern, das Mädchen verfügt nun, nach dem Eingriff, über 50 Prozent Nierenfunktion. Beide Mädchen haben gute Chancen, ein normales Leben führen zu können. Bei Ulyana dachte dann niemand mehr daran, dass etwas schief gehen könnte, sie war als der leichteste Fall eingestuft worden. Doch bei der Operation stellte sich heraus, dass die Nieren nicht zu retten sind. "In diesem Moment", sagt die Mutter, "geriet bei uns alles durcheinander."

Die Ärzte versetzten Ulyana drei Monate lang in ein künstliches Koma. Sie entnahmen beide Nieren, das Mädchen bekam eine Entzündung, Probleme mit der Leber, mit der Bauchspeicheldrüse. Es war die Zeit, aus der das Foto mit den elf Infusionen stammt, an denen die heute Dreijährige zeitweise hing.

Dreimal in der Woche muss Ulyana zur Dialyse

Ulyana hat die Tortur überstanden, heute sitzt sie im Wohnzimmer der Familie in Neuperlach auf einem Stuhl, von dem sie nicht herunterfallen kann, zieht an den Haaren ihres Vaters und brabbelt. Die Eltern machen sich Sorgen, Ulyana ist schwer behindert, dreimal in der Woche muss sie zur Dialyse, sie ist entwicklungsverzögert und wird über eine Sonde ernährt. Wahrscheinlich müssen sie ihr Mädchen ihr ganzes Leben lang betreuen. Und deshalb haben sie nun schweren Herzens doch entschieden, in München zu bleiben.

Schweren Herzens nicht deshalb, weil es ihnen nicht gefällt in der Stadt, im Gegenteil. Die Leute sind freundlich, die Krankenschwestern haben sich immer so nett um die Kinder gekümmert. Aber sie hatten in der Heimat doch alles: ein Haus, gute Jobs, Familie, Freunde. Nur eben keine Ärzte, die ihren Töchtern helfen können. Die gibt es in München, Ulyana ist darauf angewiesen, alles andere muss sich unterordnen. "Sie braucht spezielle Behandlungen, das würden wir so nicht einmal in Moskau bekommen", sagt die Mutter. Die beiden älteren Kinder, die in Sibirien bei der Oma geblieben waren, sind gerade erst nachgekommen nach München: Zwei Jahre hatten die Eltern nur telefonischen Kontakt.

Abschied vom alten Leben

Die Familie musste ihr altes Leben aufgeben, nun versucht sie, sich ein neues aufzubauen. Der Vater besucht einen Deutschkurs und lässt seine Arbeitszeugnisse beglaubigen, um eine Stelle zu finden: Erdgas, Geothermie, das wären so Bereiche, in denen er sich auskennt. Die Mutter bemüht sich, Kindergartenplätze und einen Platz in der Schule für die älteste Tochter zu finden.

Aber es fehlt noch vieles, alleine in der Wohnung. Ein Trockner muss her, dringend, durch die Drillinge ist die Familie groß, ständig fällt Wäsche an. Zwei Kinder schlafen im Wohnzimmer auf Ledersofas, sie bräuchten Betten und Möbel und die Erstausrüstung für die Schule. Und Spielzeug natürlich, für Ulyana. Spezielles Spielzeug, das die Motorik und die Sensorik des Mädchens fördert. Nach dem Sieg über den Tumor ist nun das Ziel, das Mädchen bestmöglich zu fördern.

So ist es auch bei Loredan und seiner Mutter Peggy F. Gerade hat die Familie Zuwachs bekommen: ein kleiner Hund: Peaches. Den Umgang mit ihm lernt Loredan gerade, das fordert und fördert ihn, das Tier beruhigt ihn auch. Das ist nicht unwichtig, denn Loredan leidet an Autismus und frühkindlicher Demenz, er ist entwicklungsgestört. Der Zehnjährige ist nicht nur gehbehindert, er braucht wohl bald eine neue Hüfte. Auch das Reden fällt ihm schwer, nach Fragen muss er meist lange überlegen. Loredan wird auch schnell wütend, wenn sich etwas in seiner gewohnten Tagesstruktur ändert, dann geht schon einmal etwas zu Bruch oder er verletzt jemanden. Manchmal verletzt er sogar sich selbst, er ist kräftig, kann aber seine Kraft nicht richtig einschätzen. "Wir hatten schon einige Schrammen in der Wohnung, wenn er wieder mit der Stirn gegen die Wand geschlagen hat", sagt seine Mutter.

Die Beziehung zwischen ihr und ihrem Sohn ist kompliziert. Eigentlich ist Loredan ein Zwilling, doch der Bruder starb bei der Geburt. Die ersten sieben Monate, erzählt F., sei Loredan in ihren Augen nicht ihr Sohn gewesen, so seltsam das klingt. Sie trauerte so stark um das tote Baby, dass sie ihren lebenden Sohn nicht akzeptieren konnte. Noch immer laufen ihr Tränen über die Wangen, wenn sie von Loredans Zwillingsbruder erzählt. Auf den Friedhof zu gehen, damit tut sie sich bis heute schwer. Aber sie hat diese Phase überwunden, sie hat sich damals psychologisch helfen lassen und kümmert sich nun mit aller Kraft um ihren Sohn. Auch um Tristan , Loredans jüngeren Bruder.

Loredans Vater will offenbar nichts mehr mit der Familie zu tun haben

Loredans Vater hat seinen Sohn die ersten Monate versorgt, als die Mutter mit sich selbst zu kämpfen hatte. Später hat er sich abgesetzt, F. bekommt wohl bald das Sorgerecht zugesprochen. Der Vater erscheint nicht einmal zu den Gerichtsterminen, er will offenbar nichts mehr mit seiner früheren Familie zu tun haben. Dabei vermisst ihn Loredan, die gemeinsamen Monate am Beginn seines Lebens haben eine starke Bindung entstehen lassen. Aber nun versorgt F. ihre Söhne alleine, gemeinsam mit ihrem neuen Freund und der ehrenamtlichen Betreuerin, die einmal in der Woche für ein paar Stunden vorbeischaut. Ihren Job als Erzieherin musste F. aufgeben, sie arbeitet ein paar Stunden als Schulweghelferin, mehr sei nicht drin, sagt sie.

Die Betreuung von Loredan kostet Kraft, manchmal sitzt er nur in der Ecke und ist kaum aus seiner eigenen Welt herauszuholen. Manchmal ist er ruhelos, wenn er dann nicht beschäftigt wird, macht er Quatsch. Er kann sich aber auch nicht lange konzentrieren, etwa beim Kartenspielen. Zu einem alten IPad greift er oft, auch das fördert und fordert ihn. Trotzdem, wenn ihm langweilig ist, "dann macht er schon mal was kaputt", sagt F., die ganz oft mit ihm unterwegs ist: Logopädie, Ergotherapie, Augenarzt, Ohrenarzt, Musiktherapie. "Mein Gott, was war ich mit dem Jungen schon beim Arzt", sagt sie.

Loredans rechte Gehirnhälfte arbeitet nicht richtig, er hat deshalb Probleme mit der linken Körperhälfte. Weil er nun auch noch an Osteoporose leidet, braucht er wohl eine neue Hüfte. Peggy F. selbst hat Herzprobleme und müsste sich einen Stent einsetzen lassen, ihre Mutter bekommt gerade eine Chemotherapie. "So viele Baustellen", sagt F. und stöhnt. Sie würde sich mal eine Auszeit wünschen, ein Wochenende auf dem Bauernhof zum Beispiel. Und ein Dreirad für Loredan, mit dem könnte er selbst fahren, dann wäre es leichter, Ausflüge zu machen.

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