Unterdruck:Ab geht die Post

Im Klinikum Großhadern werden Befunde und Blutproben in Büchsen durch ein kilometerlanges Rohrnetz geschickt

Von Berthold Neff

Man könnte natürlich auch Usain Bolt laufen lassen, wenn man das nötige Kleingeld hätte. Der Jamaikaner kam 2009 bei seinem Berliner Weltrekord im 100-Meter-Lauf auf ein Durchschnittstempo von 37,58 Stundenkilometern, das waren 10,44 Meter pro Sekunde. Danach allerdings war er völlig aus der Puste, einen zweiten solchen Lauf kurz danach hätte er nie und nimmer geschafft.

Die Büchsen von Manfred Jüttner hingegen werden niemals müde. Wenn er sie zum Beispiel in den Zentralverteiler 4 im Technik-Untergeschoss des Klinikums Großhadern schiebt, sausen sie von hier bis ins oberste Stockwerk des 60 Meter hohen Bettenhauses oder kreuz und quer durch die 20 Kilometer langen Rohre aus dunkelgrauem PVC, angetrieben von einer unsichtbaren Kraft und ähnlich schnell wie der Leichtathlet aus Jamaika.

Es ist der Unterdruck, der die Rohrpostbüchsen mit bis zu sieben Metern pro Sekunde durch die Leitungen befördert. Erzeugt wird er im Gebläseraum, in dem für jede Linie ein eigener Elektromotor, der Verdichter, pfeift und dröhnt. Es ist heiß hier unten und es herrscht ein Höllenlärm wie im Maschinenraum eines Hochsee-Tankers. Wenn die Rohrpostbüchse aber, vom Unterdruck nach vorn katapultiert, schon nach einer Minute pneumatisch abgebremst in der Rohrpoststation der HNO-Abteilung landet, macht sie dort nur leise "plopp".

Das Prinzip, mithilfe der Pneumatik Dinge zu beschleunigen, kennen die Menschen schon seit der Zeit, als sie das Blasrohr erfanden. Und wie das auch im größeren Maßstab funktionieren könnte, beschrieb Heron von Alexandria schon vor 2000 Jahren in seiner "Pneumatika". 1853 dann baute Josiah Latimer Clark in London die erste Rohrpost, eine etwa 200 Meter lange Linie zwischen der Börse und dem Telegrafenamt. Etwa 25 Jahre später zog München nach, auch hier ging es vor allem darum, Telegramme und Briefe schnell zu befördern. Es wurden immer mehr Telegramme versandt, so dass die Telegrafenleitungen dafür nicht mehr ausreichten. Und es war auch billiger, eine ungelernte Bedienung für die Rohrpost einzustellen als einen erfahrenen, weitaus besser zu entlohnenden Telegrafenbeamten.

Auch heute, im Klinikum Großhadern, spart die Rohrpost Wege und Zeit. Da auf dem weitgezogenen Campus immer neue Klinikgebäude entstehen, etwa das 2014 eröffnete Operationszentrum oder das Institut für Schlaganfall- und Demenzforschung, werden auch die Wege weiter. Es muss aber schnell gehen, um Leben zu retten: Blutproben müssen sofort in der Laboratoriumsmedizin analysiert, Blutkonserven von der Blutbank in den OP-Saal verschickt werden.

Das funktionierte so ähnlich schon am 16. September 1974, als der erste Patient zur Behandlung nach Großhadern kam. Seit damals gibt es die Rohrpostanlage mit ihren fünf Verteilern, auf denen noch das Firmenschild der SEL prangt, der traditionsreichen, aber längst untergegangenen Berliner Firma Standard Elektrik Lorenz AG. Und Manfred Jüttner, der nach einer Lehre zum Elektromechaniker, Schwerpunkt Elektronik, 1979 im Rohrpost-Team anfing, hält sie zusammen mit seinen Kollegen immer noch am Laufen. Nächstes Jahr, mit 63 Jahren, wird er in Rente gehen, nach 49 Berufsjahren.

Genau diese Erfahrung ist es, die er braucht, um die 40 Jahre alte Anlage in Schuss zu halten. "Das einzige Moderne daran ist der Transistor", sagt Jüttner und öffnet den Verteilerschrank, wo ein Aufkleber mahnt: "Platinen behutsam in die Kontaktleiste eindrücken." Unten im Schrank steht das Lötgerät, das muss ran, wenn auf den Platinen etwas nicht mehr in Ordnung ist. Die jungen Kollegen müssen das erst mühsam erlernen. Einen Computer sucht man hier vergebens, an den Büchsen wird die vierstellige Adresse durch Ringe eingestellt, die sich um einen Magneten drehen.

Die neueren Anlagen, die mittlerweile eingebaut wurden, könnten dagegen ohne moderne Steuerung nicht funktionieren. Winzige Chips in den Büchsen zeigen an, wo diese gerade herumsausen. Und wenn sie 7000 Kilometer auf dem Buckel haben, kriegen sie neue Dichtungen, die sich eng an das Innere der Rohre schmiegen müssen, damit der Unterdruck erhalten bleibt und ihr Fortkommen sichert.

Ob alt oder neu, ab und zu gibt es mit dieser seit mehr als hundert Jahren erprobten Technik doch Probleme. "Wenn es zu einer Verstopfung kommt, müssen wir ausrücken", sagt Manfred Jüttner. Steckt eine Büchse tatsächlich im Rohr fest, weil zum Beispiel der Deckel aufgegangen ist und sich verkeilt hat, muss der Akku-Fuchsschwanz ran. Das Rohr wird dort, wo die Büchse lokalisiert wurde, aufgeschnitten. Dann hofft man, dass es keine der größeren Büchsen mit einem Durchmesser von 16 Zentimetern war, die zerplatzt ist. Es könnte eine mit Blutkonserven gewesen sein, und das, sagt Jüttner, "ist dann eine ziemliche Sauerei". Später verschließt er die Stelle wieder sorgfältig. Luft darf hier nirgends raus, denn ohne Luft - beziehungsweise ihre Abwesenheit - geht hier gar nichts.

Früher sausten pro Tag etwa 6000 Büchsen durch die Rohrstränge an den Wänden, gefüllt mit Akten, Bestellungen, Befunden. Heute wird vieles im Intranet erledigt, nur was noch nicht im Computer erfasst wird, nimmt noch den Weg durchs Rohr, etwa 1400 Büchsen am Tag sind's noch. Aber für Gewebeproben oder Blutkonserven wird der virtuelle Weg wohl immer verschlossen sein. Sie müssen stets durchs Rohr sausen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: