Und jetzt?:Zweites Zuhause

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Johanna Hofmeir und ihre Kollegen vom Projekt Lichtblick Hasenbergl betreuen 200 Kinder, Jugendliche und ihre Familien. Sie sagt: "Kinder wollen kein Mitleid, sie wollen dazugehören und mit ihren Fähigkeiten gesehen werden." (Foto: Robert Haas)

Hilft Kindern: Johanna Hofmeir vom Lichtblick Hasenbergl

Interview von Inga Rahmsdorf, München

Johanna Hofmeir hat vor 23 Jahren das Projekt Lichtblick Hasenbergl für Kinder in Notlagen gegründet. Heute betreuen sie und ihre Kollegen in der Einrichtung 200 Kinder, Jugendliche und ihre Familien - vom Kleinkindalter über die Schulzeit bis in die Ausbildung.

SZ: Das Elternhaus entscheidet stark über die Schullaufbahn eines Kindes. Zu diesem Ergebnis kommt auch der Münchner Bildungsbericht. Sind Kinder aus armen Familien schon abgehängt, wenn sie in die Schule kommen?

Johanna Hofmeir: Entscheidend ist die Lebenssituation der Familie. Wenn Armut kombiniert ist mit Bildungsferne, sozialen Belastungen oder schwierigem Verhalten, haben die Kinder geringere Chancen. Unter solchen Lebensbedingungen fällt es ihnen schwer, sich zu konzentrieren und zu lernen. Zudem fehlen den Kindern gesellschaftliche Angebote und Erfahrungsmöglichkeiten. Es geht nicht darum, dass sie weniger Spielzeug haben oder weniger Spaß. Ihre Welt ist ärmer an Anregungen, sie erhalten weniger Unterstützung und Impulse für die Gehirnentwicklung.

Welche Erfahrungen fehlen den Kindern?

Eines unserer Kinder hatte kürzlich bei den Hausaufgaben die Frage: Was ist größer: ein Hund oder eine Kuh? Es hatte jedoch noch nie eine Kuh gesehen. Wie sollte es diese Frage also beantworten? Wenn Kinder zu wenig oder nie aus der gewohnten Umgebung rauskommen, fehlt ihnen Weltwissen. Dies ist jedoch wichtig, um den Schulstoff besser zu verstehen. Kinder, die schon viel gesehen haben, vergleichen das Neue mit Erfahrungen.

Hängt das nicht in erster Linie vom Engagement der Eltern ab?

Die Eltern, die zu uns kommen, lieben ihre Kinder genauso wie alle anderen Eltern. Und sie wollen auch nur das Beste für ihre Kinder. Sie sind jedoch mit sozialen Problemen überlastet und häufig körperlich oder psychisch beeinträchtigt. Viele denken, dass die Eltern sich nicht genug kümmern, dass sie sich einfach mehr anstrengen müssten. Aber wenn Anstrengung nichts bringt - was dann? Wenn das Leben ein einziger dunkler Tunnel ohne Licht am Ende ist, dann rutschen Selbstwertgefühl und Motivation in den Keller. Wir würden unter den gleichen Bedingungen vermutlich nicht anders handeln. Das muss einem klar sein.

Was bedeutet das für die Kinder?

Stehen nur wenig finanzielle Mittel zur Verfügung, leben die Familien in ständiger Angst vor unvorhergesehenen Kosten. Wenn die Waschmaschine kaputt geht, bringt dies die gesamte Haushaltsplanung durcheinander. Ein konstanter Stresspegel, der sich negativ auf die Atmosphäre in der Familie auswirkt. Wenig Geld bedeutet auch, beengt zu wohnen. Zu uns kommen 200 Kinder und Jugendliche und keines von ihnen hat ein eigenes Zimmer. Das bedeutet wenig Privatsphäre und wenig Ruhe, um die Hausaufgaben zu erledigen. Unser Schulsystem ist zudem anspruchsvoll und erwartet viel von den Eltern. Schwierig wird es, wenn diesen die Anforderungen nicht klar sind, wenn sie die Sprache nicht ausreichend beherrschen oder sie selbst eine schwierige Schullaufbahn hatten.

Was können Sie im Lichtblick Hasenbergl leisten?

Unser Ziel ist es, Defizite auszugleichen und die Voraussetzungen für eine gesunde körperliche und geistige Entwicklung zu schaffen. Wir unterstützen die Kinder beim Aufbau der Denk- und Lernfähigkeit und fördern den Wissenserwerb in der Schule und im Alltag. Die Kinder nennen uns ihr zweites Zuhause, und wir verstehen uns auch als Reservefamilie. Wenn es den Eltern nicht gelingt, ihre Kinder ausreichend zu unterstützen und zu fördern, dann übernehmen wir das.

Wie sieht das konkret aus?

Wir bereiten die Kinder intensiv auf die Schule vor und begleiten sie durch die gesamte Schulzeit bis zum Abschluss. Damit sie fit und lernfähig sind, legen wir großen Wert auf eine gesunde Ernährung. Kinder, die überwiegend mit vitaminlosen Billigprodukten ernährt werden, sind öfter krank, fühlen sich weniger wohl in ihrer Haut und sind weniger leistungsfähig. Gemeinsam unternehmen wir Ausflüge in die Natur oder in andere Städte. Alle Kinder von zehn Jahren an nehmen an einem Training zur Berufsfähigkeit teil. Denn unsere Kinder erleben Berufe, wenn überhaupt, eher in unattraktiven Branchen. Welches Kind träumt davon, nachts in zwei Schichten putzen zu gehen?

Sie übernehmen Aufgaben, die Staat und Kommune nicht leisten.

Stadt und Kommune übernehmen keine elterlichen Aufgaben. Wir haben in München ein gutes soziales Netz, aber Not kann sehr individuell sein und jedes Netz hat Maschen. Und durch die fallen manche Familien. Wir füllen diese Lücke mit einem durchgängigen Hilfsangebot. Die Landeshauptstadt München unterstützt uns dabei, wo sie kann. Zudem erhalten wir Hilfe von Privatpersonen, Clubs, Unternehmen und auch vom SZ-Adventskalender. Die Hilfe darf aber nicht nachlassen.

Ist Armut oft versteckt und für Außenstehende nicht sichtbar?

Finanziell nicht mithalten zu können, wird immer noch als persönliches Versagen betrachtet. Vielen Familien sieht man es auf den ersten Blick nicht an, dass sie große Not leiden. Ihnen ist es sehr wichtig, die Fassade zu wahren. Unsere Kinder reagieren auch extrem empfindlich, wenn man sie als arme Kinder bezeichnet. Sie wollen kein Mitleid, sie wollen dazugehören und mit ihren Fähigkeiten gesehen werden.

© SZ vom 17.12.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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