Über die "Ghettokids":Wie man weinen lernt

Die Lehrerin Susanne Korbmacher hat ein Buch über sich und die "Ghettokids" vom Hasenbergl geschrieben.

Von Jochen Temsch

andrej kommt aus Schlesien. Er spricht nur Polnisch, versteht die Schule nicht. Sein Vater säuft, verdrischt ihn, wirft ihn im Winter raus. Andrej schläft in geknackten Autos. Mit zwölf Jahren säuft auch er und kifft. Er schlägt Leute zusammen und beraubt sie. Am Ende, mit 14, sitzt er in Untersuchungshaft.

Monikas Eltern sind Alkoholiker. Der Vater schlägt sie, bis die Polizei kommt. Am Ende schlägert sie selbst und klaut. Emir ist türkischsprachiger Grieche. Seine Familie lebt in einem Zimmer. Die Mutter hat drei Jobs, kann die Kinder aber nicht ernähren. Der älteste Bruder ist drogenabhängig. Mit dem jüngeren geht Emir am Münchner Hauptbahnhof auf den Strich. Am Ende sitzt er in Stadelheim.

Susanne ist zehn, als ein geistig Behinderter sie vergewaltigt. Die Familie schweigt das Verbrechen tot. Der Vater ist Alkoholiker und spielsüchtig. Er sperrt seine Kinder ein, schlägt sie mit der Hundeleine, dass sie in die Hosen machen. Die Mutter ist hilflos, leidet stumm. Am Ende beschließt Susanne, den Kreislauf der Gewalt und Gegengewalt zu durchbrechen.

Susanne ist Susanne Korbmacher, heute 49 Jahre alt, Sonderschullehrerin am Förderzentrum München Nord im Hasenbergl. Dort, wo die Andrejs, Monikas und Emirs herkommen. Kinder, meist Sinti, Türken, Griechen oder Kosovo-Albaner, die in der Regelschule keine Chance haben, die lernbehindert, verhaltensgestört und gewalttätig sind - weil sie misshandelt, vernachlässigt oder entwurzelt wurden und die deutsche Sprache nicht können.

Kinder, die es im reichen München offiziell nicht gibt, die niemand sieht. Susanne Korbmacher hilft ihnen und macht sie sichtbar, das ist ihr großes Verdienst. Seit 18 Jahren arbeitet sie daran. "Es gibt nichts Schöneres für mich", sagt sie.

Man muss ganz an den Anfang von Susanne Korbmachers Biografie zurückgehen, um diese Einstellung nachvollziehen zu können. Ihre Kindheitsgeschichte hat sie in einem soeben bei Piper erschienenen Bericht veröffentlicht: "Ghettokids - Immer da sein, wo's weh tut".

Darin beschreibt sie die Gewalt, die ihr angetan worden ist, die Demütigungen und die Angst - eingebettet zwischen Kapitel, in denen ihre Schützlinge von sich erzählen. Andrej, Monika, Emir - Susanne war eine von ihnen. Nicht, weil sie aus ärmlichen Einwandererverhältnissen gekommen wäre. Susanne Korbmachers Vater war ein wohlhabender Kaufmann - Gewalt und Missbrauch spielten sich bei ihr hinter einer bürgerlichen Fassade ab.

Die Gemeinsamkeit liegt vielmehr in einer verloren gegangenen Sensibilisierung fürs Leben, die schon die Kleinsten zu spüren bekommen - im Grunde egal, welcher sozialer Schicht sie angehören. Susanne Korbmacher sagt: "Es gibt ein Ghetto, das hat nichts mit einem Ort zu tun. Das Ghetto ist in einem drin."

Vielleicht sind es diese seelischen Mauern, die sie erkennt, wenn sie ihren Jugendlichen gegenübersteht. Sie sagt: "Ich schaue in ihre Augen und treffe den richtigen Ton." Ein Ton, der einfach, klar und bildhaft ist, denn die Jungen und Mädchen sind nicht daran gewohnt, Probleme kompliziert zu analysieren. Susanne Korbmacher sagt ihnen zum Beispiel: "Ihr seid Nichtschwimmer, die jemand aus einem Boot in einen See geworfen hat."

Sie motiviert die Kinder mit Sätzen wie: "Eure Kinder werden stolz auf euch sein." Und einmal, als sie ihnen erklären wollte, dass man auch vor Freude weinen kann, erzählte sie ihnen die Geschichte, wie ihr Sohn von seinem Vater nach Griechenland entführt worden war, wie hart sie um ihren Jungen kämpfte, und wie sie ihn schließlich wieder in ihre Arme schloss.

Ihr Buch hat sie dem inzwischen 19-Jährigen gewidmet, "damit er seine Vorgeschichte und somit seine eigene Kindheit besser verstehen kann". Vor vier Jahren gründete Susanne Korbmacher zusammen mit dem Sozialpädagogen Achim Seipt den Trägerverein "Ghettokids - Soziale Projekte e. V.", an dem vier Initiativen für rund 400 Jungen und Mädchen aller Nationen und Schultypen hängen.

Zum Beispiel gibt es das Selbsthilfeprojekt "Lichttaler", bei dem Kinder und Jugendliche durch Geben und Nehmen von kreativen Leistungen ihr Leben organisieren. Für dieses Engagement ist Korbmacher unter anderem mit dem Bundesverdienstorden ausgezeichnet worden. Jeder Künstler, der sich in irgendeiner Form mit dem Hasenbergl auseinander setzt, holt sich Rat - und Schauspieler - bei ihr. So entstanden etwa Christian Wagners Fernsehfilm "Ghettokids", Claus Strigels Dokumentation "Planet Hasenbergl" und das derzeit an den Kammerspielen laufende "Bunnyhill"-Projekt durch die Mithilfe von Susanne Korbmacher. "Meine Arbeit ist kein Strohfeuer, sie brennt immer weiter", sagt sie.

Auch ihr Buch ist in einfachen, kurzen Sätzen gehalten, damit es jeder versteht. Die Direktheit der Geschichten erinnert an das vor 23 Jahren erschienene Drogendrama "Christiane F. - Wir Kinder vom Bahnhof Zoo" - erweitert um die Migranten- und Verelendungsproblematik. Und so individuell die Geschichten sind, so allgemein gültig sind sie, weil sie die Gesellschaft spiegeln.

Susanne Korbmacher sagt: "Die Kinder jammern nicht, sie haben Lebensfreude. Aber in entscheidenden Situationen fehlt ihnen der Boden unter den Füßen. Alle Politiker heucheln, wie wichtig Kinder seien, aber keiner macht etwas für sie.

Wir erziehen uns die Arbeitslosen von morgen." Dann zitiert sie aus Zeitungsmeldungen, die sie sammelt: Schon jetzt leben eine Million Kinder an der Armutsgrenze, Experten rechnen mit weiteren 1,5 Millionen durch Hartz IV.

Versuch der Wiedergutmachung

Susanne Korbmacher kann viele Geschichten über die Schicksale erzählen, die hinter diesen Zahlen stehen. Neulich hat sie einem Mädchen geholfen, das von seinen Eltern in den Schulferien zwangsverheiratet wurde. Ein Ausbildungsplatz hätte das Mädchen selbstständig gemacht, aber zum Vorstellungsgespräch getraute es sich nicht, weil ihm aufgrund seiner schlechten Ernährung sämtliche Zähne ausgefault waren.

Susanne Korbmacher sammelte Geld für den Arzt, redete mit den Eltern, rettete das Mädchen. Mit solchen Aktionen hilft sie sich auch selbst. Sie sagt: "Jedes Mal, wenn ich etwas für ein Kind tun kann, ist es eine Wiedergutmachung an der kleinen Susanne, an dem Kind in mir."

Als sie an ihrem Buch schrieb, kehrte sie zum ersten Mal zurück an den Ort, an dem sie als Mädchen vergewaltigt worden war. Sie machte ein Foto, um ihre Erinnerung zu bannen und nach vorne zu schauen. Es ist auch diese Hoffnung auf ein besseres Leben, die sie mit ihren "Ghettokids" verbindet.

Die Geschichten der Jungen und Mädchen gehen weiter, wenn sie am Ende sind. Andrej macht den Hauptschulabschluss und findet Arbeit. Emir lebt in einem betreuten Wohnprojekt. Monika bekommt ein Kind.

Am 9. November liest Susanne Korbmacher zur Eröffnung der "Buchwoche" bei "Bunnyhill" im Neuen Haus der Kammerspiele. Beginn 20 Uhr.

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