TSV 1860 in der Relegation:Löwenstüberl dankt dem Fußballgott

Löwenstüberl TSV 1860 in der Relegation gegen Holstein Kiel

Erleichterung nach dem Schlusspfiff: Fans des TSV 1860 schauen im Löwenstüberl das Relegationsspiel gegen Holstein Kiel.

(Foto: Florian Peljak)

In der Klubgaststätte der Sechziger durchleiden unentwegte Fans das entscheidende Spiel gegen Kiel - zusammen mit einem Roten.

Von Thomas Schmidt

Bruno Banani wird zwei Wetten in 90 Minuten verlieren, er weiß es nur noch nicht. Der Mittfünfziger, der in Wahrheit natürlich ganz anders heißt, hockt am äußersten Rand einer Bierbank vor dem Löwenstüberl, Weißbier vor der Nase, blauer Sonnenschirm über dem roten Kopf. Der Fernseher läuft schon, denn bald wird angepfiffen. Sechzig gegen Kiel. Siegen oder fliegen. Bruno Banani, der sich den Spitznamen spontan selbst verpasst hat, ist eigentlich ein Roter. Aber heute, "heute bin ich Münchner", sagt er ernst. Ist schon klug, das zu betonen. Im Löwenstüberl. Als Roter.

Neben Bruno, vor Bruno und hinter Bruno sitzen, rauchen, trinken nervöse Blaue. Das Löwenstüberl, raunt einer, den Bruno stundenlang nur Johnny Porno nennen wird, das Stüberl sei die Seele des Vereins. Trotzdem ist nur ein gutes Dutzend Sechzger in die Wirtschaft an der Grünwalder Straße gepilgert. "Ich habe das Gefühl, dass heute die ganze Stadt zusammenrückt, egal ob blau oder rot", sagt Johnny Porno. Mag sein - nur nicht hier. Selbst Christl, die Wirtin, ist fort. In Italien, heißt es.

Vor dem Spiel gibt es "Flutschfinger"-Eis

30 Minuten vor Anpfiff verteilt eine Bedienung im "60-Hexe"-Shirt "Flutschfinger"-Eis für die Nerven. Es gäbe auch "Bum-Bum"-Eis im Angebot, "aber das sollen sie lieber auf dem Rasen machen". Ein bisschen Bum-Bum wäre bitter nötig, "ein Sieg ist existenziell", sagt Günter, Anfang 60. Bei einem Abstieg müsste der TSV wohl das Nachwuchszentrum dichtmachen, sagen hier alle. Millionen an TV-Geldern gingen flöten, die meisten Profis würden den Verein verlassen. In der Geschäftsstelle, im Ticketshop - überall stehen Arbeitsplätze auf dem Spiel. "Die neuen Trikots vom neuen Sponsor sind schon da", erzählt Günter. "Aber es gibt mit dem keinen Vertrag für die dritte Liga. Die Trikots könnten sie alle in den Müll werfen." Günter hat harte 90 Minuten vor sich.

Kurz vor Anpfiff macht Bruno seine erste Wette. Die Löwen gewinnen 3:0, sagt er. Oder 3:1. Wenn nicht, spendiert er Johnny Porno ein Weißbier. Handschlag. Deal. Sie diskutieren noch kurz, ob die Löwen Lothar Matthäus als Trainer holen sollten (Johnny Porno: "Der hat doch keine Sozialkompetenz!"), dann pfeift Knut Kircher ein Spiel an, das Wahnsinn auf Rasen werden wird. "Haut sie weg, die Sprotten!", ruft die 60-Hexe und posiert vor dem TV-Gerät wie der amerikanische Wrestler "Macho Man" Randy Savage.

"Die wissen gar nicht, was auf dem Spiel steht"

Früher, sagt die Hexe, früher hätten sich vor den Spielen 500 Fans am Stüberl getroffen, heute sind es ein nervöses Dutzend und ein entspannter Roter. Zehn Minuten haben sie überstanden, da sagt die Hexe: "Der Stahl läuft nicht rund." Gemeint ist Dominik Stahl, Mittelfeldspieler beim TSV. Eine Minute später wird er ausgewechselt. Die Hexe weiß Bescheid. Richtig rund läuft es aber auch bei der restlichen Mannschaft nicht. In der 16. Minute fällt das 0:1 für Kiel. Stille. "Die wissen gar nicht, was auf dem Spiel steht", flüstert Johnny Porno vor sich hin. Sein Kumpel Matthias ordert bei der Hexe noch ein Helles, "ohne ertrage ich das nicht", erklärt er, "ich bin doch kein Masochist".

38. Minute: "Spielt Haching eigentlich in der dritten Liga?", fragt einer. Niemand antwortet. 42. Minute: "Jetzt hilft nur noch ein Anruf vom Blatter", stöhnt Johnny. Niemand ruft an. 43. Minute: Die Hexe schält eine Banane, klassische Übersprungshandlung. Dann Halbzeit. "Diese Mannschaft hat es verdient abzusteigen", sagt Johnny. "Aber der Verein verdient es nicht."

Auf einen Schlag ist alles anders

Weil die Spieler auf dem Feld auch zu Beginn der zweiten Halbzeit noch immer nicht so richtig kämpfen, wollen die Fans auf den Bierbänken bald nicht mehr so richtig hinschauen. Zwischen Banani und Porno entbrennt die Debatte, wo die Fifa eigentlich ihren Hauptsitz hat. Banani wettet auf Frankreich, Porno auf die Schweiz. Ein Blick aufs Smartphone und, ja, Porno hat ein Weißbier gewonnen. Glückwunsch. In der 72. Minute spritzen die Rasensprenger auf dem angrenzenden Trainingsplatz plötzlich los. Wenigstens das funktioniert. Bruno Banani zeigt jetzt Fotos von seiner Tochter herum. Existenzielles Spiel? War da was? Günter zahlt schon mal sein Bier.

Löwenstüberl TSV 1860 in der Relegation gegen Holstein Kiel

Zweifelnde Fans des TSV 1860 im Löwenstüberl während des Relegationsspiels gegen Holstein Kiel.

(Foto: Florian Peljak)

Aber nein, das war's noch nicht. Auf einen Schlag ist alles anders. Johnny schnellt hoch wie ein Kastenteufel und schüttelt Matthias. Bruno haut mit beiden Händen auf die Bierbank. Flanke aus dem Halbfeld, der Ball kommt zu Adlung, der legt das Leder flach ins Glück. 78. Minute: 1:1. "Da geht noch was!", brüllt Johnny Porno. "Ja Wahnsinn", ruft die Hexe. Josef, ein Mann wie ein Berg, Löwen-Shirt, Löwen-Mütze, Löwen-Hosenträger, fängt an zu zittern. "Sechzig!", ruft er und bebt an Leib und Seele. Ein Glück, dass seine Angelika ihm jetzt beisteht. Im Internet haben sich die beiden kennengelernt. Aber wenn Angelika aus Chemnitz ein Bayernfan gewesen wäre, "dann hätte ich sie postwendend mit Stempel zurückgeschickt", betont Josef. Er meint das so, wie er es sagt.

Wie ein Berg beginnt zu hüpfen

Die letzten 20 Minuten brechen an. In der 85. fällt ein Tor für Sechzig, das Knut Kircher aber nicht gibt. "Ja Wahnsinn", sagt da die Hexe ein zweites Mal. Noch zehn Minuten. Niemand zeigt Fotos herum, niemand interessiert sich für die Fifa, niemand lutscht Eis. Und dann geschieht das, was Johnny Porno später ein Wunder nennen wird. Nachspielzeit. Kiel bekommt den Ball nicht weg, der donnert an den rechten Pfosten, raus vor die Füße von Kai Bülow - und der macht ihn rein. Die Löwen sind gerettet.

Bruno Banani und Johnny Porno liegen sich in den Armen, die Hexe wischt sich die feuchten Augen. Josef kann nicht mehr sitzen, der Berg hüpft. Günter läuft vor und zurück, "jetzt bin ich zehn Jahre älter", sagt er. Irgendjemand ordert eine Runde Ramazzotti. Die Bedienung, die hinter dem Tresen frisches Bier zapft, muss eine Pause einlegen, weil ihr die Tränen die Sicht verschleiern. "Kurz vor Schluss habe ich gebetet, dass es noch klappt", sagt Johnny Porno. "Es gibt ihn also doch, den Fußballgott!" Dass er mit dem Schlusspfiff auch die zweite Wette gegen Bruno Banani gewonnen hat, das fällt ihm erst später wieder ein. Josef herzt seine Angelika. "Ich bin schon blau auf die Welt gekommen", sagt er stolz.

Wird jetzt alles gut? Nächste Saison? "Klar", sagt Johnny Porno. "Aufstieg!"

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