Tollwood:Marrakesch am Mittleren Ring

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Hier gibt es alles - solange es nicht stromverbrauchend oder aus Plastik ist: Beim Tollwood-Festival kann man auch ohne Geld sein Glück finden - und nebenbei ein wenig die Welt retten. Ein Rundgang.

Stephan Handel

Die deutsch-arabische Geschichte ist eine Geschichte der Missverständnisse. Das Marrakesch-Zelt auf dem Tollwood-Festival tut so, als sei es ein orientalischer Basar, mit Tee-Ausschank, wallenden Vorhängen und drei Männern, die auf merkwürdigen Instrumenten merkwürdige Musik machen. Draußen versucht das Festival-Gelände an diesem sonnigen Nachmittag ebenfalls, sich möglichst wüstenhaft zu geben: Es ist staubig und heiß. Drinnen steht ein Mittdreißiger-Paar vor einem Shisha-Stand. Sie sagt zu ihm: "Wie heißen gleich wieder diese Wasserpfeifen?" Er sagt zu ihr: "Bakschisch, glaub ich."

So ist das also, wenn das Volk auf die Avantgarde trifft - der normale Mensch, der sein Zeug im Supermarkt um die Ecke kauft und für den der Gang in den Bioladen ein Ausflug in unbekanntes Gebiet ist, begegnet dem Außergewöhnlichen, dem Bewussten, dem Fairen, den Sachen also, die die Welt retten werden. Seit 23 Jahren gibt es Tollwood.

Früher war die Haltung der meisten Münchner dazu mit dem Seufzer "Ach, ist wieder Batikhosen-Flohmarkt" hinreichend beschrieben. Aber Öko ist schick geworden, die Bewahrer der Schöpfung sitzen nicht mehr in Bauernhof-Kommunen und sortieren schrumpelige Äpfel; heute arbeiten sie in der eigenen Zahnarztpraxis in Schwabing und vermessen nach Feierabend ihren ökologischen Fußabdruck.

Das hat natürlich auch Tollwood verändert. Vielleicht trifft ein Vergleich mit der Auer Dult zu: So, wie sich die Sendlinger Hausfrau am Mariahilfplatz Küchenmesser, Siebe und Universal-Gemüsehobel holt, holt die ökologisch - und vermutlich auch: spirituell - bewusste Kundin auf Tollwood das, was sie fürs Körper- und fürs Seelenheil braucht.

Das Angebot ist reich und alles andere als gewöhnlich. Die Pantoffeln zum Beispiel, die in einem Drittweltland aus Autoreifen gebastelt werden, erfüllen gewiss mehrere Kriterien moralisch akzeptabler Ware: Sie recyclen fragwürdigen Rohstoff, der zudem für eine fragwürdige Art der Fortbewegung genutzt wurde, und sie helfen armen Menschen, die sonst wahrscheinlich keine Beschäftigung hätten. Der Kauf solcher Schuhe bringt bestimmt doppelte Karma-Punkte.

Es gibt nichts, was es nicht gibt - solange es nur nicht Mainstream, stromverbrauchend oder aus Plastik ist. Tragbare Sonnenuhren zum Beispiel für Leute, die auch bei der Bestimmung der Zeit auf die Energiewende setzen. Jede Menge esoterischer Schnickschnack. Piercing-Stände, falls jemand der Meinung ist, sein Körper verfüge noch nicht über genügend Öffnungen. "Ökologische Kinderkleidung" aus Südamerika; beim Blick auf die Preisschilder könnte man leicht auf die Idee kommen, man sollte mal ökonomische Kinderkleidung erfinden. Aber das hat wahrscheinlich mit dem "textilen Vertrauen" zu tun, das an einem anderen Stand für die dort angebotene Ware wirbt.

Wer es mit dem Hunger zu tun bekommt, kann aus 50 Gastronomien auswählen, die von Menschen aus rund 20 Nationen bestückt werden. Zumindest auf den ersten Blick sieht es so aus, als sei es leichter, eine Falafel zu bekommen als eine vernünftige Bratwurst. Jedenfalls aber: Fair. Das scheint das häufigste Werbewort auf dem Gelände zu sein, anders als "bio", "öko" oder - früher einmal - "preiswert" beinhaltet es ja nicht nur persönlichen Vorteil für Gesundheit oder Geldbeutel, sondern ein Versprechen auf eine insgesamt bessere Welt.

Es ist aber nicht alles exotisch und teuer auf Tollwood. Die Veranstalter rühmen sich, 75 Prozent der Veranstaltungen seien kostenlos. Wer korrekt mit dem Rad anreist, kann es einer Gratis-Untersuchung unterziehen, während er über das Gelände schlendert. Im Kinderzelt lernen Grundschüler kochen, Bio natürlich. In der Tanzbar versucht einer, sechs Bewegungstalenten ohne allzu viele Knochenbrüche eine Breakdance-Choreographie beizubringen, während hinten ein Baby kreischt, aber wahrscheinlich nur, weil es Durst hat. Zahllose Workshops geben Interessenten die Möglichkeit, an Verfeinerung oder Neuerwerb aller Arten von Fähigkeiten zu arbeiten: Graffiti, Hiphop, Beatboxing oder Slackline, das früher Seiltanzen hieß, bis es seine Trendsportartigkeit dadurch erhielt, dass das Seil nicht mehr in 15 Metern Höhe gespannt wurde, sondern sturzfreundlich in 80 Zentimetern.

Die Jazz Lounge bietet jeden Abend feine improvisierte Musik, ebenso die Andechser Lounge. Im dazugehörigen Zelt finden jeden Tag zwei Konzerte statt, bei freiem Eintritt. Auf der Außenbühne kämpft gerade eine vierköpfige Band mit dem mehrstimmigem Gesang und dem Desinteresse der Zuhörer. Der Gitarrist trägt Schlangenlederstiefel, die Haare bis zum Gesäß und ein breites Stirnband. Eine Gruppe von Mittvierzigern schaut herein, würde sich von der Musik nicht abschrecken lassen, die Frauen befinden jedoch, unter den Sonnenschirmen würde sich die Hitze unerträglich stauen - also muss die Band ohne ein gewiss sachkundiges Publikum aus dem Schwäbischen auskommen.

Jetzt kündigen sie eine "rockige Ballade" an, was dann aber auch nicht sehr viel anders klingt als der Brachiallärm zuvor. Der Gitarrist wirft mehrmals äußerst fotogen seine Haare nach vorne und wieder zurück und scheint sich, obwohl er sehr mit Gitarrespielen und Gutaussehen beschäftigt ist, darüber zu freuen, dass er dabei fotografiert wird. Daran ändert auch nichts, dass, als alles im Kasten ist, das vielleicht achtjährige Mädchen seine Kamera gleich wieder im Rucksack der Mutter verstaut.

Ein älterer Mann tritt heran, er ist nicht mehr ganz sicher auf den Beinen, das Muscle-Shirt verhüllt seine sonnengegerbte Haut auf das Eindrucksvollste nicht. Ob er eine Zigarette haben könne? Denn drüben, im Marrakesch-Zelt, da haben sie ihm eine Schachtel mit arabischer Schrift drauf angedreht, die zwar aussieht, als seien Zigaretten drin. In Wirklichkeit aber, er zeigt es voller Verzweiflung, beinhaltet die Schachtel Shisha-Tabak. Hoffentlich hat er nicht zu viel Bakschisch gegeben.

© SZ vom 14.07.2011 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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