Therapie für ältere Menschen:"Trocken bleiben bis zum Tod"

Therapie für ältere Menschen: Therapeutin Dorothy Matthes verwendet die sogenannte Lebensflussarbeit, um den Suchtverlauf ihrer Patienten zu visualisieren.

Therapeutin Dorothy Matthes verwendet die sogenannte Lebensflussarbeit, um den Suchtverlauf ihrer Patienten zu visualisieren.

(Foto: Alessandra Schellnegger)

Das Leben endlich in den Griff bekommen - das wollen Senioren bei ihrem Alkoholentzug am "Centrum für integrative psychosomatische Medizin" wieder lernen

Von Stephan Handel

Siebzig Jahre alt hat Laura Kolb werden müssen, aber jetzt reicht's ihr: "Das ist wirklich schlimm, was man da durchmacht. Man fühlt sich richtig dreckig." Mehr als 50 Jahre ihres Lebens ist Laura Kolb Trinkerin, hat mit 18, 19 angefangen, hat mit Ende 30 die erste Entziehungskur hinter sich gebracht, war 15 Jahre trocken, bis sie sich das erste Gläschen erlaubte, fiel schnell in alte Gewohnheiten zurück. Die zweite Alkohol-Therapie hielt nicht lange, heuer im Frühjahr dann der bislang letzte Totalabsturz. Jetzt sagt sie: "Ich mag nicht mehr."

Laura Kolb heißt nicht Laura Kolb, sondern hat sich diesen Namen als Pseudonym ausgesucht. Das zeigt schon einen Teil des Problems: dass die, die munter weiterpicheln, als die Normalen angesehen werden. Und dass jene, die den Mut und die Kraft finden, ein alkoholfreies Leben zu versuchen, sich verstecken, aus durchaus begründeter Furcht davor, schief angeschaut zu werden.

Der zweite Teil des Problems ist Laura Kolbs Alter: Suchttherapien werden im Normalfall von der Rentenversicherung bezahlt, als Rehabilitation mit dem Ziel, den Patienten wieder fit für die Arbeitswelt zu machen. Dieser Grund entfällt bei Menschen, die ihr Berufsleben schon hinter sich haben - und wo niemand bezahlt, gibt es auch keine Hilfsangebote. Dorothy Matthes sagt: "Ältere Menschen kommen im System der Suchthilfe nicht vor."

Dorothy Matthes war noch nicht einmal auf der Welt, als Laura Kolb zu trinken begann - gerade mal Anfang 30 ist sie, und doch angetreten, älteren Menschen zu helfen. Seit Juli bietet das "Centrum für integrative psychosomatische Medizin" (CIP) an der Landshuter Allee eine Therapiegruppe speziell für Senioren an. Neun Patienten kommen seitdem zweimal die Woche und sprechen über ihr Trinkverhalten, ihre Trinkgeschichte - und wie sie es schaffen können, künftig abstinent zu bleiben.

Worin sich eine Alkohol-Therapie für ältere Menschen von der üblichen zu unterscheiden hat, das hat Dorothy Matthes in ihrer Bachelor-Arbeit untersucht. Sie unterscheidet drei Gruppen potenzieller Patienten, die je unterschiedlich angesprochen werden müssen: Jene, die seit vielen Jahrzehnten große Mengen trinken. Jene, die erst spät angefangen haben, meist ausgelöst durch eine Änderung der Lebensumstände, etwa durch die Pensionierung. Und drittens die Rückfälligen. Solche wie Laura Kolb.

Sie sitzt in Dorothy Matthes Büro, wo auch die ebenfalls zur Therapie gehörenden Einzelgespräche stattfinden. Wer beim Stichwort "Alkoholiker" den Penner auf der Parkbank mit der Doppelliter-Flasche Rotwein vor sich hat, der wird dieses Bild schwer mit dem dieser Frau in Einklang bringen: gepflegt, gut gekleidet, im Leben stehend. Und doch hat der Alkohol viel in ihrem Leben zerstört, brachte ihr eine Abmahnung in ihrem Beruf als Schulsekretärin ein, diverse Krankenhaus-Aufenthalte, Entgiftungen, die nunmehr dritte Therapie, Trennungen, Enttäuschungen, Abstürze. Und die große Täuschung, der viele Trinker erliegen, gerade wenn sie es geschafft haben, lange Zeit trocken zu bleiben: dass das eine Glas schon nichts schaden werde. Dass sie es jetzt im Griff haben und so trinken können, wie die meisten anderen, unbeschwert, unproblematisch, genussvoll.

Aber sie können es nicht, und so lernen die Patienten am CIP Strategien, nicht rückfällig zu werden. Und die schauen bei älteren Menschen durchaus anders aus als bei jüngeren: Einem 30-Jährigen zu sagen, er werde bald sterben, wenn er nicht aufhört zu trinken, versetzt diesem - vielleicht - einen heilsamen Schreck. Ein 75-Jähriger dürfte mit diesem Argument kaum zu beeindrucken sein.

Bei ihrer Gruppe findet Dorothy Matthes allerdings eine extrem hohe Motivation. Das liegt womöglich daran, dass die Teilnehmer wirklich aus eigenem Entschluss gekommen sind, dass äußerer Druck - vom Ehepartner, vom Arbeitgeber, geschweige denn als Bewährungsauflage von einem Richter - großteils wegfällt. Laura Kolbs Freund, normales Trinkverhalten nach ihrer Einschätzung, findet's schon okay, dass sie die Therapie macht - seine Unterstützung beschränkt sich dann allerdings großteils darauf, dass er, wenn er sie besucht, sein Bier selber mitbringt und sie es nicht für ihn kaufen muss.

Bei Patienten wie Laura Kolb unterscheidet sich der therapeutische Ansatz nicht groß von jüngeren Klienten. Interessant wird es bei den "Late On-Sets", also jene, die ihr ganzes Leben lang nicht oder moderat getrunken haben - und erst zu einem späten Zeitpunkt die Konsum-Mengen ins Schädliche steigern. "Da geht es dann auch um das eigene Bild vom Altern", sagt Dorothy Matthes: "Ist das wohlwollend? Oder eher defizitär?" Wenn jemand etwa sein ganzes Leben erfolgreich im Beruf war und mit der Pensionierung nicht zurechtkommt - dann könne er in der Therapie angeleitet werden, sich zu fragen, was sein Leben denn neben der beruflichen Anerkennung ausfüllt.

80 Stunden dauert die Therapie im CIP, zwei Sitzungen die Woche, das ergibt mit Urlaub und Verfügungstagen im Durchschnitt ein Jahr Laufzeit. Nachdem die Rentenversicherung als Kostenträger nicht zur Verfügung steht, bezahlt in den meisten Fällen die Krankenkasse - diese allerdings oftmals deutlich unwilliger als jene: "Manchmal genehmigen sie erst mal nur drei Monate", sagt Dorothy Matthes. "Das ist therapeutisch nutzlos und unsinnig." Dass die Zahl der potenziellen Klienten wachsen wird, steht für die Therapeutin außer Frage: Nach Schätzungen der Deutschen Hauptstelle für Suchtfragen ist bei zwei bis drei Prozent der Männer und etwa einem Prozent der Frauen in Deutschland, die älter als 60 Jahre sind, der Alkoholkonsum riskant, wenn nicht schon im Stadium der Abhängigkeit angekommen; das sind gut 800 000 Menschen. Problematischen Umgang mit Medikamenten pflegen demnach rund zwei Millionen Senioren - auch auf sie ist das neue Angebot im CIP zugeschnitten.

Das Ziel dabei ist das jeder Suchttherapie: Abstinenz. Denn dass sie nicht zum sogenannten normalen, kontrollierten Trinkverhalten zurückkehren können, auch das müssen die Patienten in der Therapie lernen. Laura Kolb hat das versucht, hat nach zwei Entzügen zweimal geglaubt, jetzt werde ihr das eine Gläschen schon nichts anhaben können - und ist zweimal gescheitert. Nun, 70 Jahre alt, sagt sie: "Ich will trocken bleiben bis zum Tod."

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