Szene München:Stammtische haben zu Unrecht einen schlechten Ruf

Stammtischleben im Hofbräuhaus in München, 2012

Der Stammtisch - ein Hort der Tradition? Sicherlich auch. Mitunter. Ja. Aber nicht nur: Der Stammtisch "Prinzregent" im Hofbräuhaus.

(Foto: Robert Haas)

Denn hier wird hochkompetent parliert. Und eben nicht dumpf politisiert.

Kolumne von Bernhard Hiergeist

Es kann einem in München schnell passieren, dass man am Excel-Stammtisch landet. Oder an dem der U-Boot-Kameradschaft im Hofbräuhaus. Oder an dem der Zauberkünstler (Treffpunkt der Redaktion bekannt). Nicht mal in Hinterzimmern von urigen Boazn ist man sicher. Selbst da treten mitunter junge Menschen mit Jutebeuteln und unsicherem Blick an die Tische und fragen, ob sich denn nicht hier die klassischen Philologen träfen.

Ja schämen sich die Leut' denn heut' für gar nichts mehr? Hat nicht gerade in Bayern der Stammtisch eine unselige Vergangenheit? Als Umschlagplatz für Kühe und Bräute, als Symbol für dumpfesten Populismus und einfachste Lösungen? Wer geht denn da freiwillig hin und gibt es auch noch zu?

Nun, anscheinend nicht wenige. Kein Orchideenfach an der Uni, kein Segelverein, keine Polizeidienststelle, die sich nicht Woche für Woche trifft, um dann eben über Orchideen, das Segeln oder das Verbrecherfangen zu diskutieren. Wer ein Wandregal aufhängen will, holt sich keinen Handwerker, sondern Tipps beim Dübel-Stammtisch.

Am Stammtisch wird fachlich hochkompetent parliert. Und wer genau hinschaut, erkennt: Das wurde es schon immer. Der schlechte Ruf ist eine Fremdzuschreibung, meist von Politikern mit Profilierungsabsicht (die man bestimmt an keinem Stammtisch je trifft). In Wahrheit heißt "sich auf Stammtisch-Niveau begeben" ja: sich kundig, aber niedrigschwellig über ein zuvor festgelegtes Thema austauschen. Das war schon beim ersten belegten Stammtisch so: Jesus hatte den organisiert und sprach mit Laien wie Experten über christliche Sozialethik.

Stammtische bewahren ein altes, fast vergessenes Wissen, nämlich das, wie man gleichzeitig ein rechter Fachidiot sein kann und trotzdem angenehme Gesellschaft. Und wer das schafft, der trägt wirklich einen Teil bei zur Gesellschaft. Insofern ist der Stammtisch eher dem Bausilikon ähnlich, das man im Badezimmer in Fugen spritzt, damit alles zusammenhält. Das wirft zwar manchmal unschöne Blasen, aber ganz ohne fällt halt alles in sich zusammen. Und dann sieht man erst recht den hässlichen Estrich der Gesellschaft.

Natürlich kann man auf den Stammtisch auch spöttisch herabblicken, wie man heutzutage ja auf alles spöttisch herabblicken kann. Aber an nichts ein gutes Haar lassen zu können, das ist doch eigentlich das wahre Stammtisch-Niveau. Darüber könnte man mal diskutieren. Vielleicht am Stammtisch Herzensfroh. Auch der trifft sich im Hofbräuhaus, jeden zweiten Freitag.

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