Studentenbewegung:"Die Hierarchien, die wir abschaffen wollten, bestehen nach wie vor"

Hartmut Wächtler vertritt als Rechtsanwalt viele Mandanten aus der linken Szene.

Bis heute ist Hartmut Wächtler Ansprechpartner für die linke Szene, wenn sie in Konflikt mit der Justiz gerät.

(Foto: Imago)

Die 68er-Revolte hat den Jurastudenten Hartmut Wächtler geprägt. Bis heute verteidigt er als Rechtsanwalt Menschen gegen die Staatsmacht.

Von Hans Holzhaider

Berlin war ätzend, fand Hartmut Wächtler. Es war der Sommer 1965, sein erstes Semester als angehender Jurastudent. Er stammt aus Munster, einer Kleinstadt in der Lüneburger Heide, die vor allem wegen ihres Truppenübungsplatzes bekannt ist. Er wollte in die große Stadt, da schien ihm Berlin das Richtige zu sein. "Aber es war ätzend", sagt er. "Das Studium war ätzend, die Profs haben irgendeinen Scheiß gelabert, die Stadt war ätzend, die Leute waren ätzend. Eine Rentnerstadt. Lauter Spießer. Ich hatte wirklich keine langen Haare, nur knapp über die Ohren, aber da wurde man auf der Straße schon angeglotzt."

Aber die Studentenbewegung? Die Rebellion? Teach-Ins, Sit-Ins, Institutsbesetzungen, Ho-Ho-Ho-Chi Minh? "Das waren elitäre Zirkel", sagt Wächtler, "die ganze politische Bewegung kam aus den Studentendörfern; ich war ja eine Landpomeranze. Ich wohnte privat bei einer alten Jungfer in der Nähe vom Ku'damm. Ich fand da keinen Anschluss. Nach drei Semestern hatte ich die Schnauze voll von Berlin. Ich wollte weg."

Nach München. München war anders. "Da fand man sofort Anschluss. Da saßen die Studenten in den Kneipen." In den Tengstuben zum Beispiel, wo man bis drei Uhr nachts bei zwei Halben Bier hocken konnte, ohne dass der Wirt sich beschwerte. Oder in der Nachteule in der Occamstraße. Dort lernte Hartmut Wächtler Rolf Pohle kennen, den Vorsitzenden des Liberalen Studentenbunds Deutschland (LSD). Pohle hatte jeden Dienstag um 22.30 Uhr einen Stammtisch in der Nachteule. "Das war eine Uhrzeit, die mir entgegenkam", sagt Wächtler.

Rolf Pohle war eine zentrale Figur in der Münchner Studentenbewegung. "Er übte eine große persönliche Anziehung auf mich und andere aus", sagt Hartmut Wächtler. "Die Studentenrevolte war für ihn Befreiung von den Lügen der Väter und der Versuch eines neuen Lebens ohne Hierarchien und Bevormundungen. Er hatte ein sehr starkes Gefühl für Gerechtigkeit, vor allem für die Schwachen und Bedrohten." Im April 1967 hatten in Griechenland die Obristen geputscht. Tausende wurden unter dem Regime der Junta verhaftet und gefoltert. "München war voll von verfolgten Griechen, die vom Ausländeramt kujoniert wurden", sagt Wächtler. "Pohle hat sich sehr für die Griechen engagiert; wir haben Kundgebungen und Teach-Ins gemacht."

Aber das Thema, das die Studenten in München wie in Berlin am meisten aufregte, war der Krieg in Vietnam. "Man sah es ja jeden Tag im Fernsehen", sagt Wächtler. Napalmbomben, niedergebrannte Dörfer, die chemische Entlaubung der Urwälder, und alles im Namen der Freiheit. "Ich las ja damals brav die Zeit", sagt Wächtler, "bis Theo Sommer in einem Leitartikel schrieb, in Vietnam werde unsere Freiheit verteidigt. Seitdem habe ich die Zeit nicht mehr in die Hand genommen. Wir hatten eine Mordswut."

Im Mai 1968 kam es in München zu zahlreichen Protestmärschen

Im Mai 1968 kam es in München zu Protestmärschen gegen die Notstandsgesetze.

(Foto: Friedrich Rauch/Interfoto)

Vor dem Amerikahaus am Karolinenplatz schwenkten Demonstranten die Vietcong-Flagge, auf das amerikanische Generalkonsulat in der Königinstraße flogen Steine. Aber der verbissene Eifer, der die Studentenbewegung in Berlin kennzeichnete, blieb den Münchnern doch eher fremd, und die damals noch städtische Münchner Polizei trat bei weitem nicht so martialisch auf wie ihre Berliner Kollegen. "Die waren schlauer", sagt Wächtler. "Die infiltrierten eher die Demonstranten und suchten nach Rädelsführern, die man dann exemplarisch aburteilen konnte."

Aber dann kam der 11. April 1968, der Tag, an dem in Berlin Rudi Dutschke auf offener Straße niedergeschossen wurde. Der Attentäter Josef Bachmann trug eine Zeitung bei sich mit der Schlagzeile "Stoppt Dutschke jetzt! Sonst gibt es Bürgerkrieg". Es war nicht die Bild -Zeitung, sondern die rechtsextreme Deutsche Nationalzeitung, aber die Empörung der Studenten richtete sich jetzt gegen den Springerverlag. Bild und BZ hatten seit Monaten massiv Stimmung gegen die Studenten gemacht und Polizei und Politiker zu "angemessenen" Maßnahmen gegen die "Politgammler" und "langhaarigen Krakeeler" aufgefordert.

Der 11. April war der Gründonnerstag. "Alles lief zur Uni", erzählt Wächtler, "und dort hieß es: zur Münchner Freiheit. Man wusste nicht so recht, was man tun sollte, bis einer rief: zum Springerhaus." Das war das Buchgewerbehaus in der Schellingstraße, wo die Bild-Zeitung produziert und gedruckt wurde. "Es war alles ein bisschen kopflos", sagt Wächtler. "Ich wollte einfach dabei sein. Da stand ein Tor offen, man strömte rein, plötzlich standen wir in der Redaktion. Einige fingen an, Papiere in den Hof zu schmeißen, einige haben kostenlose Ferngespräche geführt. Dann hieß es: Die Bullen sind da. Ich schaute raus, da stand eine komplette Hundertschaft der Bereitschaftspolizei im Hof. Die waren ja total militarisiert. Stahlhelme auf dem Kopf, sie sahen aus wie die Wehrmacht. Ich dachte: Zeit, dass ich mich verdrücke. Wir gingen in die Kneipe, haben über revolutionäre Gewalt diskutiert und viel Bier getrunken."

Am Karfreitag wiederholte sich das Ganze, aber schon etwas militanter. Die Polizei fuhr Wasserwerfer auf, "es wurde hier und da geschlägert, irgendwann wurde eine Barrikade gebaut". Am Karsamstag und Ostersonntag herrschte Ruhe, da wurde keine Zeitung produziert. Aber am Ostermontag wurde endgültig blutiger Ernst aus dem, was aus Wächtlers Sicht bis dahin "teils Ernst, teils Spaß, teils Theaterinszenierung, teils Sport" gewesen war. Innerhalb weniger Minuten, es war gegen 21 Uhr, wurden zwei Menschen tödlich verletzt: der Fotoreporter Klaus Frings und der Student Rüdiger Schreck. "Opfer gesteuerter Terroraktionen", hieß es in einer Presseerklärung der CSU-Landesleitung, aber was wirklich geschah, wurde nie aufgeklärt.

"Wir haben Zeugenaussagen gesammelt, aber es ergab sich kein klares Bild", sagt Hartmut Wächtler. Für die Staatsanwaltschaft stand fest: "Der Tod (von Rüdiger Schreck) ist ausschließlich von einer durch einen Demonstranten geworfenen Holzbohle verursacht worden." Aber Recherchen, die Schrecks Bruder Reinhard und der Journalist Günter Wallraff anstellten, legen eher den Verdacht nahe, dass Schreck durch den Schlag mit einer Kameraleuchte eines Mitglieds eines Polizei-Filmteams zu Tode kam.

"Die studentische Selbstverwaltung ist bedeutungslos geworden"

Osterunruhen in München gegen Springer, 1968

Als Demonstranten Barrikaden vor dem Münchener Buchgewerbehaus in der Schelling-/Ecke Barerstraße errichteten, um die Auslieferung der "Bild"-Zeitung zu stoppen, kam es zu Auseinandersetzungen mit der Polizei.

(Foto: Alfred Strobel/Süddeutsche Zeitung Photo)

"Für viele wurde das ein Schlüsselerlebnis", sagt Hartmut Wächtler. "Danach hat sich die Linke auseinanderdividiert. Die einen hatten die Schnauze voll. Andere sagten: Jetzt muss man sich mit den Arbeitern solidarisieren und sich mit den Gewerkschaften verbünden. Einige haben sich bewaffnet und sind in den Untergrund gegangen."

Es gab Hunderte Festnahmen und Ermittlungsverfahren gegen Demonstranten, und die drakonischen Urteile der Münchner Gerichte machten schnell klar, dass die bayerische Justiz Exempel statuieren wollte. Rolf Pohle hatte gerade sein erstes juristisches Staatsexamen bestanden und arbeitete als Referendar bei dem Rechtsanwalt Eggert Langmann. Das Büro des LSD in der Barer Straße wurde zur Anlaufstelle für alle, die juristische Hilfe brauchten. Das war die Geburtsstunde der Münchner Rechtshilfe. "Wir haben von morgens bis abends intensiv gearbeitet", erzählt Wächtler. "Wir haben jeden einzelnen Fall akribisch bearbeitet. Wir haben Rollenspiele gemacht, ich habe den Staatsanwalt gemimt."

Pohle durfte als Referendar mit einer Untervollmacht schon als Verteidiger vor Gericht auftreten. Er schockierte die Münchner Amtsrichter, indem er Rollkragen statt Krawatte trug und sich die Robe von Langmanns Ehefrau Lo auslieh, die ihm nur knapp über die Oberschenkel reichte. "Man konnte ihm nichts anhaben. Die Länge der Robe ist nicht vorgeschrieben", sagt Wächtler. Er muss noch heute kichern, wenn er daran denkt.

Aber die Justiz verzeiht keinem, der sich über sie lustig macht. Der Amtsgerichtsrat Früh zeigte den aufmüpfigen Studenten, wo in Bayern der Hammer hängt. In einer Debatte im Studentenkonvent hatte Pohle seine Solidarität mit den Osterdemonstranten bekundet und erwähnt, er habe selbst mit an einer Barrikade gebaut. Das wurde von einem konservativen Konventsmitglied flugs der Staatsanwaltshaft hinterbracht.

Pohle wurde wegen Landfriedensbruchs und Nötigung angeklagt. Als einziges Beweismittel präsentierte die Staatsanwaltschaft einen Film, den Wächtler als "Gewitter im Nachttopf" beschreibt - nichts war zu sehen als ein dunkler Schatten vor dunklem Hintergrund. "Aber dann kam einer vom Staatsschutz und sagte, er könne Pohle erkennen. Es war eine vollkommen wahnsinnige Beweisführung." Pohle wurde zu 15 Monaten Haft ohne Bewährung verurteilt. Das bayerische Justizministerium verwehrte ihm die Teilnahme am zweiten Staatsexamen. Seine juristische Laufbahn war beendet, noch bevor sie begonnen hatte.

Für Wächtlers eigene Laufbahn waren diese Monate die entscheidende Weichenstellung. "Ich hatte mir ja bis dahin eher eine stille Karriere als Verwaltungs- oder Mietjurist vorgestellt", sagt er. Aber daran war jetzt nicht mehr zu denken. Gleich nach seinem zweiten Staatsexamen im Mai 1973 gründete er mit drei Kolleginnen und Kollegen eine Kanzlei, die zu einer gesuchten Adresse für alle wurde, die Probleme mit dem Polizei-, dem Demonstrations- oder dem Versammlungsrecht bekamen.

Das blieb so für die nächsten 50 Jahre. Es gab ja viel zu tun. Die Berufsverbote - Lehrer, Postler, Eisenbahner, denen der Zugang zum öffentlichen Dienst verweigert wurde, weil sie irgendwann einmal Mitglied in einer Gruppe waren, die vom Verfassungsschutz beobachtet wurde. Der Kampf um die Wiederaufbereitungsanlage in Wackersdorf. Die oft extrem ruppigen Methoden der bayerischen Polizei, die "bayerische Art", wie es der Ministerpräsident Max Streibl nannte, nachdem die Polizei beim G-7-Gipfel 1992 500 Demonstranten stundenlang eingekesselt und zum Teil misshandelt hatte. "Ich habe mich nützlich gefühlt", sagt Hartmut Wächtler.

Und was ist geblieben von der revolutionären Begeisterung von 1968? Nicht so schrecklich viel. "Auf manchen Gebieten ist es hundertprozentig schief gegangen", sagt Wächtler. "Die Universität ist ein Fiasko. Die studentische Selbstverwaltung ist bedeutungslos geworden. Die Hierarchien, die wir abschaffen wollten, bestehen nach wie vor. Und ist es nicht ein Treppenwitz der Geschichte, dass es ausgerechnet die Linken Gerhard Schröder und Joschka Fischer waren, die zum ersten Mal wieder deutsche Soldaten ins Ausland schickten?"

Aber etwas, meint Wächtler, hat sich doch verändert durch die 68er: "Die Beziehungen der Menschen untereinander. Das Verhältnis der Geschlechter. Das Verhältnis zur Sexualität. Die Rolle des Mannes bröckelt." Es gab damals eine Sozialreferentin des AStA, sie hieß Julia von Behr. "Wir nannten sie die Pillen-Jule. Sie hatte eine Liste von Ärzten, die die Pille auch für Unverheiratete verschrieben."

Man sieht: Es gibt doch Fortschritt.

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