München:Ein riesiges Geschäft mit Zuganbindung

München: Die Verkaufsfläche im Hauptbahnhof umfasst 8000 Quadratmeter, das ist mehr als ein Fußballfeld. Links im Bild Top Trend, rechts Tabak Arnold.

Die Verkaufsfläche im Hauptbahnhof umfasst 8000 Quadratmeter, das ist mehr als ein Fußballfeld. Links im Bild Top Trend, rechts Tabak Arnold.

(Foto: Robert Haas)

350 000 Menschen bewegen sich an einem Werktag durch den Hauptbahnhof. Etwa 80 Läden bieten vom Pailletten-Shirt mit Marienplatz-Motiv bis zum Rollkoffer alles an, was sie brauchen können.

Von Thomas Schmidt

Im Bahnhof kann man alles verkaufen. Mit Pailletten besetzte Deutschlandhüte werden hier feilgeboten, Strumpfhosen gehen gut und Pumps im Nude-Look. In den vielen Schaufenstern warten Flaschen schottischen Whiskys und Feuerzeuge, auf denen sich kleine Kraken rekeln, Selfie-Sticks und Handykabel hängen an Haken, Zeitungen gibt es hier sowieso - und im Zwischengeschoss lassen sich Teenager die Ohrläppchen piercen und mit glitzernden Glassteinchen schmücken. Der Hauptbahnhof ist ein riesiges Geschäft, nicht nur für die Deutsche Bahn.

Rund 80 Läden bieten ihre Waren im und unter dem Bahnhofsgebäude an, die Verkaufsfläche umfasst 8000 Quadratmeter, was größer ist als ein gewöhnliches Fußballfeld. Täglich schiebt und drückt sich eine ganze Großstadt durch das Areal: 350 000 Menschen bewegen sich an einem durchschnittlichen Werktag durch den Hauptbahnhof, zu Spitzenzeiten nähert sich die Zahl einer halben Million. Nach einer Schätzung der Bahn kommen jeden Tag allein 70 000 Menschen nur zum Einkaufen oder Essen und Trinken hierher. Die Zahlen sind schwindelerregend - und der Traum jedes Verkäufers.

"Wenn ich meinen Laden im Olympia-Einkaufszentrum hätte, würde ich sicher nicht so viel Umsatz machen", sagt Müslüm Falay. Seit ein paar Jahren ist er Filialleiter im Top Trend, einem Andenkenladen nahe des Haupteingangs. Es ist eines der wenigen Geschäfte hier, das nicht zu einer Franchise-Kette gehört. Falay hat auch ein paar Stammkunden, sagt er, vor allem ältere Damen, die Schals oder Handtaschen bei ihm kaufen.

Aber das richtige Geschäft mache er mit den Touristen, die Kugelschreiber ergattern, auf denen "Germany" steht, oder glitzernde Pailletten-Shirts mit Marienplatz-Motiv. Der große Vorteil am Standort seien aber nicht allein die Touristen, sondern auch die Öffnungszeiten. "Viele kaufen an Feier- oder Sonntagen hier ein, wenn sie vergessen haben, rechtzeitig ein Geschenk zu besorgen", sagt Falay. Mehr als 1000 unterschiedliche Artikel biete er an. "Am Bahnhof ist immer was los", sagt Falay. "Egal, was du hier anbietest, es wird verkauft."

Auch wenn Top Trend schon seit etwa zwei Jahrzehnten Geschäfte im Bahnhof macht, hat sich das Angebot rund um die Gleise mit der Zeit verändert. "Bis etwa zum Jahr 2000 bestand der überwiegende Teil aus Speisen und Getränken, Gaststätten sowie aus Souvenirs", erklärt Bahn-Sprecher Bernd Honerkamp. Seit der Jahrtausendwende würden nun zunehmend Bedarfs-Artikel angeboten: Schuhe, Schirme oder auch Koffer. "Auch der Food- Bereich hat sich gewandelt." Die Verkaufsflächen werden kleiner, Imbiss und To-go-Produkte immer beliebter.

Lebenswelten prallen aufeinander

Die Gastronomie ist fest in der Hand von Ketten, von B wie Brioche Dorée bis Y wie Yorma's. Das Gastro-Unternehmen Rubenbauer betreibt nicht nur eine dieser viereckigen Metallhütten vor den Gleisen, sondern hat gleich eine ganze Zeile am Südeingang gemietet. "Hier zu arbeiten ist wie Kino", sagt eine Mitarbeiterin des Bäckereistands. Von feiernden Fußballfans über gestresste Anzugträger, asiatische Touristen und Münchner Studenten, Obdachlose und Flüchtlinge - an kaum einem anderen Ort prallen derart unterschiedliche Lebenswelten aufeinander.

"Das beste Psychologiestudium der Welt kann man am Hauptbahnhof machen", sagt die Mitarbeiterin, während sie belegte Semmeln in der Auslage drapiert. Als vor Monaten noch jeden Tag Hunderte Flüchtlinge hier ankamen, da habe ihr das Leid die Tränen in die Augen getrieben. "Aber ich will hier nicht weg", sagt sie. Anstatt selbst zu flüchten, habe sie Semmeln an die Flüchtlinge verteilt. "Der Mensch bleibt Mensch. Und freut sich über eine freundliche Geste."

Das mit der Freundlichkeit, ja, das habe sich gewandelt über die Jahre, sagt Anke Höll. Seit 20 Jahren arbeite sie bei Tabak Arnold im Bahnhof, "und die Leute werden immer unfreundlicher". Trotzdem liebt sie den Job hier. Etwa 2000 Kunden, schätzt sie, kauften jeden Tag bei ihr ein. "Ich mag die Action, ist doch besser, als sich gelangweilt die Beine in den Bauch zu stehen."

Am besten gehen - keine Überraschung in einem Tabakladen - Zigaretten. Aber damit lasse sich kaum noch Geld verdienen, sagt Höll. Deswegen bietet das kleine Geschäft auch edlen Whisky an, außergewöhnliche Feuerzeuge für knapp 200 Euro, oder Pfeifen für 300 Euro. Und ja, diese Sachen stehen nicht nur im Regal, betont Höll, die werden auch gekauft - etwa zehn Flaschen Whisky pro Woche zum Beispiel.

Wie all die anderen Geschäftsleute hier profitiert Höll von den schieren Massen, die sich durch den Bahnhof schieben. Aber es gibt eben auch das Elend, Drogenabhängige, prügelnde Betrunkene. Es ist kein einfacher, nicht immer ein friedlicher Ort.

An Wochenenden bewachen Securitys den Top-Trend-Laden, Filial-Leiter Falay sagt, er sei zwei-, dreimal im Monat als Zeuge vor Gericht wegen Ladendiebstahls. Das gehört offenbar dazu, wenn man ein Geschäft im Bahnhof betreibt. Der Job sei "kein Pipifax", sagt auch Anke Höll vom Tabak-Laden. Und trotzdem: "Ich möchte nicht woanders arbeiten." Schließlich ist Bahnhof ein bisschen wie Kino. Und wie ein Psychologiestudium.

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