SZ-Serie: Juden in München:Weichen auf Wachstum

Kanalisation, Schlachthof, Pferdebahn: Moritz Guggenheimer gestaltete München maßgeblich. Von 1870 an stand er an der Spitze der Münchner Bürgerschaft

Von Jakob Wetzel

In den Augen Moritz Guggenheimers war München wohl vor allem eins: eine große Baustelle. Als er 1825 im schwäbischen Harburg geboren wurde, lebten etwas mehr als 60 000 Menschen in der bayerischen Haupt- und Residenzstadt. Als er 77 Jahre später in München starb, waren es mehr als eine halbe Million. Das Wachstum drohte die Stadt zu überfordern: Denn sämtliche Neubürger wollten ja nicht nur wohnen, sondern auch essen, trinken, einen Abort benutzen, von einem Ort zum anderen kommen und ihre Kinder zur Schule schicken. Guggenheimer tat sein Möglichstes, um ihnen dabei zu helfen.

Moritz Guggenheimer war vor allem Unternehmer: Sein Vater handelte mit Tuch und Wolle, 1855 übernahm der Sohn das Geschäft, es florierte. Zusätzlich arbeitete er als Bankier, war Aufsichtsrat bei Löwenbräu, 1868 gehörte er zum Gründungskomitee der Bayerischen Vereinsbank. Kurz darauf wurde er Präsident der Industrie- und Handelskammer. Aber die Wirtschaft füllte Guggenheimer nicht aus, er ging in die Politik. Im Jahr 1869 ließ er sich für die Unabhängigen Liberalen zu einem der Gemeindebevollmächtigten der Stadt München wählen. Das Gremium war im selben Jahr geschaffen worden, es ist vergleichbar mit dem heutigen Stadtrat: Nach der neuen Gemeindeordnung wurde die Stadt von Bürgermeister und Magistrat verwaltet, die Gemeindebevollmächtigten dagegen vertraten die Bürger - und bestimmten unter anderem den Bürgermeister. Das Gremium war sichtbarer Ausdruck des neuen Selbstbewusstseins, das Münchens Bürger erfasst hatte. Und Guggenheimer war von 1870 an sein Vorsitzender. Zum ersten Mal stand ein Jude an der Spitze der Münchner Bürgerschaft.

SZ-Serie: Juden in München: Die Wirtschaft füllte Moritz Guggenheimer nicht aus, er ging 1869 in die Politik.

Die Wirtschaft füllte Moritz Guggenheimer nicht aus, er ging 1869 in die Politik.

(Foto: Bayerisches, Wirtschaftsarchiv)

Und es gab viel zu tun. Guggenheimer förderte den Bau der Münchner Kanalisation ebenso wie die neue Versorgung der Stadtbewohner durch Trinkwasser aus dem Mangfalltal. Er trieb den Bau des zentralen Schlacht- und Viehhofs Münchens voran. Und er unterstützte auch das Projekt einer Pferdebahn, der Vorläuferin der heutigen Trambahn - obwohl die Polizei sich zunächst dagegen sperrte, dass in der Innenstadt Schienen verlegt wurden.

Dass sich ein jüdischer Münchner politisch für seine Stadt einsetzte, war im 19. Jahrhundert alles andere als selbstverständlich. Juden waren lange weniger akzeptiert als vielmehr geduldet. Erst 1813 hatte König Max IV. Joseph den bayerischen Juden erlaubt, Kultusgemeinden zu gründen. Und noch bis 1861 war der Zuzug von Juden mit Hilfe von Matrikelnummern begrenzt. Mit Christen rechtlich völlig gleichgestellt wurden Juden erst im Zuge der Reichsgründung im Jahr 1871.

Guggenheimer starb am 26. Juli 1902 an den Folgen einer Lungenentzündung, er wurde auf dem Friedhof an der Thalkirchner Straße beigesetzt. Ein "hervorragender, in vieler Hinsicht hochverdienter Bürger unserer Stadt" sei Guggenheimer gewesen, vermeldeten die Münchner Neuesten Nachrichten, die Vorgängerin der Süddeutschen Zeitung. Er sei stets objektiv und unparteilich gewesen, außerdem "unbeirrt durch irgendwelche Anfeindungen, an denen es zu gewissen Zeiten nicht fehlte". Tatsächlich hatte Guggenheimer bereits 1879 den Vorsitz der Gemeindebevollmächtigten aufgegeben, 1881 hatte er sich weitgehend aus der Politik zurückgezogen: Er hatte es satt, sich gegen wiederkehrende antisemitische Angriffe zu verteidigen. Die ersten Schmähungen hatte er schon kurz nach seiner Wahl über sich ergehen lassen müssen. Zumindest die anderen Gemeindebevollmächtigten hatten ihm stets den Rücken gestärkt.

Politiker und Pazifisten

Sie haben nicht immer so prägende Spuren in der städtischen Infrastruktur hinterlassen wie Moritz Guggenheimer - aber in und für München politisch engagiert haben sich zahlreiche weitere Juden. Ein Zeitgenosse Guggenheimers war etwa der gebürtige Münchner und liberale Politiker Sigmund von Henle: Der Publizist und Jurist war ein enger Vertrauter von Herzog Max in Bayern, dem Vater der österreichischen Kaiserin Sisi. In der Zeit, in der Guggenheimer die Münchner Gemeindebevollmächtigten anführte, vertrat Henle den Wahlkreis München in der Abgeordnetenkammer des bayerischen Landtags. Prominentester jüdischer Politiker Münchens ist dagegen ein gebürtiger Berliner: der USPD-Politiker Kurt Eisner. Er führte im November 1918 die Revolution an, die das bayerische Königreich in eine Republik verwandelte. Er selbst wurde erster Ministerpräsident des Freistaats. Im Februar 1919 wurde er auf dem Weg zum Landtag von einem rechtsextremen Grafen ermordet. In den folgenden Wirren hatten mehrere jüdische Revolutionäre zentrale Funktionen inne, allen voran Anarchisten und Pazifisten wie Erich Mühsam, Ernst Toller und Gustav Landauer sowie Kommunisten wie Eugen Leviné. Ebenso eine bedeutende Rolle spielten unter anderem jüdische Münchnerinnen in der Frauenbewegung: Die Schriftstellerin Carry Brachvogel etwa verschrieb sich nicht nur in ihren Werken der Emanzipation. So gründete sie 1913 gemeinsam mit Emma Haushofer-Merk den gewerkschaftsähnlichen "Verein Münchner Schriftstellerinnen", der die Bezahlung schreibender Frauen verbessern wollte. Brachvogel wurde 1942 in Theresienstadt ermordet. Für Frauenrechte engagierte sich auch beispielsweise Brachvogels Zeitgenossin Rahel Straus, eine Frauenärztin und überzeugte Zionistin. Sie gehörte zeitweise zum Vorstand des Jüdischen Frauenbundes und gründete 1926 eine Wirtschaftsschule für Frauen in Wolfratshausen. Nach dem Tod ihres Mannes emigrierte sie mit ihren Kindern nach Israel. wet

An Moritz Guggenheimer persönlich erinnert in München heute wenig bis gar nichts. Die Familie bewohnte ein Palais an der Arcisstraße 14, unmittelbar neben dem Haus der Pringsheims, der Schwiegereltern von Thomas Mann. Beide Häuser wurden 1933 abgerissen. Die Nationalsozialisten ersetzten sie durch den noch heute an diesem Ort stehenden "Verwaltungsbau" der NSDAP.

Die Israelitische Kultusgemeinde München und Oberbayern feiert Jubiläum: Vor 200 Jahren wurde sie erstmals, vor 70 Jahren erneut gegründet. Die SZ stellt in einer kleinen Serie jüdische Persönlichkeiten vor, die München geprägt haben.

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