SZ-Serie: Der Sound der Stadt:Der Klang des Nichts

Wenn sich die dicke Tür des reflexionsarmen Raumes beim Akustik-Unternehmen Müller-BBM schließt, tauscht man die Realität des täglichen Lärms gegen Geräusche, die sonst ungehört bleiben. Ein Selbstversuch

Von Simon Schramm

Kein Rattern von Lastwagen, kein Quietschen der Tram, kein Gequatsche in der S-Bahn, kein Hämmern von der Baustelle. Aber auch nicht das Flüstern des Windes oder das Zwitschern von Vögeln. Wie hört sich das an, nichts zu hören? Es ist ein spannender Selbstversuch im sogenannten Rar in Planegg, dem reflexionsarmen Raum im fünften Stock des Akustik-Unternehmens Müller-BBM.

Nach fünf Minuten aber nimmt man dann doch etwas wahr - sehr gedämpft, aber irgendwo weit entfernt war doch was, oder? Oder ganz nah? Haben draußen vor der Tür nicht eben High-Heels geklackert? - kann nicht sein. Eine etwa 15 Zentimeter dicke Stahltür und, drauf geklebt, gut 50 bis 60 Zentimeter Schaumstoff schotten den Raum von der Außenwelt ab. Da, im rechten Deckenwinkel . . . ist das nicht das Geräusch eines Staubsaugers im Stockwerk drüber? - Nein.

Bis auf den Betonboden ist der Raum vollständig an Wand und Decke mit weißen Schaumstoffkeilen ausstaffiert, deren spitz zulaufende Form in optimaler Weise dazu da ist, den Schall aufzusaugen. Ist da oben ein Surren? Kann auch nicht sein. Von der Decke tauchen LED-Leuchten den Raum in helles Licht, die aber anders als konventionelle Lampen kein Geräusch machen. Auch das lockere Prasseln in der Deckenmitte entspringt der Fantasie, es regnet doch gar nicht.

Die erste Reaktion, wenn man das Nichts hört: Einbildung. Denn in diesem reflexionsarmen Raum gelangen keine Geräusche. "Das ist eine losgelöste Kiste", erklärt Jürgen Reinhold, Ingenieur bei Müller-BBM. Der Raum hängt an elastischen Federn, sodass keine Vibrationen des Gebäudes auf ihn einwirken. Im Inneren sorgt die Gestaltung des Raumes mit seinen unzähligen Schaumstoffzacken dafür, dass jeder Ton einen Nachhall von nur 0,1 Sekunden hat; der Schall verbreitet sich nicht. Das hat den Effekt, dass der Klang eines Objektes kurz, aber sehr klar zu hören ist, wie etwa das Zappeln des Werkes in Jürgen Reinholds Uhr. Reinhold, Pferdeschwanz, Schwabe, arbeitet seit 30 Jahren bei Müller-BBM. Derzeit befasst sich Reinhold, der weltweit zu den führenden Akustikern zählt, mit einem Kollegen damit, wie das berühmte Sydney Opera House saniert werden soll.

Der Grundgeräuschpegel im Rar in Planegg liegt bei etwa null bis drei Dezibel. Zum Vergleich: In einem Theatersaal sollte dieser Pegel bei etwa 25 Dezibel liegen, um die Schauspieler optimal zu hören; am Stachus herrscht ein Grundgeräuschpegel von 70 Dezibel und mehr, so Jürgen Reinhold. "Man hört im Rar nur die Quelle, keine Reflexion", sagt er. Den Mitarbeitern von Müller-BBM gelingt es so, die genaue Schallleistung festzustellen - um dann zu überlegen, wie die Töne manipuliert werden können. Ist das Kreischen des Föhns zu intensiv, wo müssen die Kanten geschliffen werden, um den schrillen Lärm zu entschärfen, donnert der Staubsauger mit genügend Power?

Alleine in diesem Raum zu stehen, ist nicht vergleichbar damit, am stillen Ufer eines Sees zu dösen oder auf einem abgelegenen Gipfel in sich hinein zu horchen. Die Stimmung im Raum ähnelt aber diesen Situationen. Ohne ein Außen wird man selber zur Tonquelle. Man entdeckt, wie klar die eigene Stimme eigentlich tönt und welches Potenzial in der Kehle liegt. Man überlegt, wo im Kopf man das nun einsetzende Eigenrauschen der Ohren lokalisieren soll, diesen Strom, der nie vergeht. Und man hört, wie die Nase tief im Rhythmus der Atmung pfeift. "Man hört die Geräusche, die immer da, aber sonst verdeckt sind", fasst es Jürgen Reinhold zusammen.

Der zweite Eindruck: Man fällt auf sich selbst zurück. Gekoppelt mit der Erkenntnis, dass es unmöglich ist, "nichts" zu hören. Weil von unserem Körper so viele kleine akustische Signale ausgehen, weil in der Stille diese Stimme im Kopf immer lauter wird, die uns in jeder Sekunde begleitet - die Rede ist nicht von Schizophrenie, sondern vom Denken. Darum suchen wir ja die Stille, ohne Ablenkung werden die Gedanken klarer. "Nichts zu hören ist nicht möglich", bestätigt Jürgen Reinhold, "von der Umgebung her schon. Aber dann setzt das Innere ein."

Der reflexionsarme Raum gehört zu den vielen Prüfstätten von Müller-BBM, in denen das Unternehmen untersucht, wie sich Lärm reduzieren, absorbieren, verteilen oder verstärken lässt. Die international bekannte Firma mit etwa 1200 Mitarbeitern weltweit und rund 100 Millionen Euro Umsatz ist etwa dann zur Stelle, wenn die Lärmbelastung an einer Hauptstraße, einer Bahntrasse oder Fabrik gemessen werden soll. Sie stellt fest, wie viel Lärm beim Zuknallen einer Autotür entsteht oder wie ein Alarm in einem Museum jeden Besucher in der hintersten Ecke erreicht. Aber optimiert wird ebenso die Akustik im Teatro La Fenice in Venedig oder im Moskauer Bolschoi-Theater.

Zurück in den Raum. Die eingebildeten Geräusche kehren nicht wieder, auch der Körper ist kurz stumm, Zeit zum Denken. Wieso wollen wir eigentlich "nichts" hören? München ist dicht besiedelt und Lärm ein Stressfaktor, wie Jürgen Reinhold sagt, gesundheitsschädlich. In der Stille findet man Abstand zu den Dingen, fällt heraus aus dem Alltagsstrom, kann die Perspektive weiten. Irgendwie fühlt sich das gut an, diese stumme Ruhe.

Dann aber, nach einer Dreiviertelstunde im Rar, erschrickt man auch. Man hebt die Stimme einmal an - sinnlos, sie verpufft. "Nichts zu hören, auch ein Brüllen hilft da nix", brüllt man dann, man versucht es zumindest. Aber was ist ein Brüllen, wenn es nach Millisekunden abbricht? So fest man auch in die Hände klatscht, es ertönt nur ein leichter Klaps. Der leere Bauch meldet Hunger, aber er sondert kein ungeduldiges Knurren ab, sondern nur ein schüchternes Grummeln. Jürgen Reinhold stimmt der Beobachtung zu, das Bauchknurren werde über den Luftschall weitergeleitet, der im RAR sofort absorbiert wird. Das Bohren beim Zahnarzt aber würde man trotz der gezackten Wände so wie gewohnt wahrnehmen, weil nämlich der Bohrkrach über den Körperschall durch die Knochen fährt, präzisiert Reinhold.

Nach etwa einer Stunde im Rar ist man verunsichert. Man fragt sich, ob es die Welt draußen überhaupt noch gibt, die einzige Verbindung hinaus ist nämlich nur eine rote Feueralarmlampe. Wenn jeder Laut wirkungslos bleibt, setzt ein Gefühl der Kastration ein. Wie ein unsichtbarer Schleier legt sich die Schalllosigkeit auf einen nieder. "Das ist ein klaustrophobisches Gefühl", weiß Jürgen Reinhold, "auch wenn man nicht an dieser Phobie leidet."

Die letzte Erkenntnis, wenn man "nichts" hört: Der Mensch ist sozial. Wir wollen kommunizieren, suchen nach der Besinnung im Stillen wieder das Außen. Jürgen Reinhold sagt zwar, das sei bloß eine Frage des Alters, aber nach einer solchen Erfahrung ist einem klar: Der Mensch braucht auch den Lärm.

Am Donnerstag lesen Sie: Der Sound der Stadt in Filmen, die in München spielen

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