SZ-Serie: Der Sound der Stadt:Das Timbre der Tiefe

Lesezeit: 4 min

Züge heulen, Türen rumpeln, Kompressoren rattern, Menschen trippeln und quatschen: Die U-Bahn erzeugt auf ihren Wegen unter der Stadt eine ganz spezielle Geräusch-Kulisse

Von Stefan Mühleisen

Der 19. Oktober 1971 war ein wunderschöner Herbsttag. Die Sonne umschmeichelt die Kuppeldächer der Frauenkirche und blendet die Touristen, die auf dem Marienplatz zum Glockenspiel hinaufschauen. Beste Bedingungen, um eine neue Ära für die Stadt einzuleiten, obgleich die Sonne dort, wo dieses neue Kapitel Münchens aufgeschlagen wird, niemals scheint: im Untergrund. Weit unter den Füßen der Touristen steht ein fesches Münchner Kindl, auf einem Samtkissen hält es eine Schere bereit, mit dem der Oberbürgermeister gleich das symbolische Band durchschneiden soll. Der erste Streckenabschnitt der Münchner U-Bahn zwischen Kiefergarten und Goetheplatz steht zur Eröffnung an. Bald rollt der erste Girlanden geschmückte A-Wagen über die Gleise - und die Stadt darf sich endlich als Metropole fühlen. Denn eine echte Kapitale braucht auch ein unterirdisches Schnellbahnnetz.

An der Isar wird damit ein Regler aufgedreht, der aufhorchen lässt: München klingt nun anders, neue Töne prägen die Stadt. In schummrigen Tunnels, auf wuseligen Bahnsteigen, in mal überfüllten, mal gähnend leeren Zügen, entfaltet sich jener urbane akustische Erlebnisraum, der sich im Unterbau einer Großstadt abspielt: das Konzert tausenderlei Geräusche, aufgeführt vom Getümmel Tausender Menschen, begleitet vom Getöse der Triebwagen. Vorbei die Zeiten, da das Gerumpel der Trambahnen sich als weltstädtischer Soundtrack ausgeben konnte.

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(Foto: Florian Peljak)

Die Rolltreppe am Münchner Marienplatz.

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(Foto: Alessandra Schellnegger)

Wenn eine U-Bahn die Türen öffnet,...

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(Foto: Alessandra Schellnegger)

...können Experten wie Stephan Schuster anhand des Geräuschs sogar die Baureihe des Zuges identifizieren.

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(Foto: Florian Peljak)

Mystisch: Der Münchner Untergrund.

Es ist ein singulärer Resonanzraum, der da entstanden ist. Denn, freilich ist auch in New York das Zischen, Quietschen, Dröhnen der Züge zu vernehmen. Doch es klingt anders. In New York mögen sie das gleiche symphonische Thema aufführen, doch die Münchner U-Bahn-Unterwelt sondert ihre ganz eigene Variation ab. Wer genau hinhört, der kann den ganz eigenen Münchner U-Bahn-Sound herausfiltern.

Stephan Schuster ist so jemand, der das kann: Seit 30 Jahren ist er dem Schall-Spektakel täglich ausgesetzt, denn so lange arbeitet der heute 57-Jährige bei der Münchner Verkehrsgesellschaft (MVG) als Fahrkartenkontrolleur. Dabei hat er ein feines Gespür für das Timbre der Unter-Tage-Welt entwickelt. Ein freundlicher Mann, mit grauer Strubbelfrisur, der sich fast kindlich erfreuen kann an der Geräuschkulisse. "Aha, vom Luftzug her ein A-Wagen", sagt er mit wissendem Lächeln am Bahnsteig der U 3/U 6 am Marienplatz. Ein Windhauch umspielt die Nase, eine U-Bahn nähert sich. Immer schriller heult der Chor von Gleichstrom-Motoren, die unter 750-Volt-Spannung stehen, aus dem Tunnel. Schuster grinst. Ein A-Wagen, gebaut von 1971 bis 1983 - manche nennen die Züge diese Reihe liebevoll "Olympiawagen" - rollt heran, während das hohe Heulen langsam die Tonleiter hinuntergleitet. Ein Bass schwingt mit, die Performance der Zahnräder und Lager im Getriebe, die knarrend ineinander greifen.

Sound-Kenner Schuster weist jetzt auf das eruptive, mechanisches Rumpeln hin, mit dem die Türen aufspringen: Nur die A-Wagen klängen so, die B- und C-Baureihen öffneten und schlössen sich leiser, summender, da diese nicht mit Pressluft, sondern mit Elektromotoren betrieben sind. Schuster muss jetzt die Stimme heben, denn während die Tunnelwände widerhallen vom Getrippel und Geschiebe der Menschen, rattern die Sechszylinder-Kompressoren des A-Zuges. Sie pumpen Druckluft in die Bremsen, die Türen, die Luftfederung. "Zurückbleiben bitte", schnarrt es aus den Lautsprechern; und mit hochfrequentem "Huüüt-Huüüt-Hujüüt"-Pfeifen krachen die Türen zu.

Dieses Geräusch-Gewühl ist indes kein Allerwelts-Radau, es ist die ganz spezielle Münchner U-Bahn-Akustik. Die A-Wagen sind zwar auch in Nürnberg im Einsatz, doch der Sound ist nicht der selbe. Jedes Tunnel-Bauwerk ist einzigartig, denn es ist aus Abermillionen Einzelteilen gemauert, vernietet, verschweißt, mit spezifischer Kurvenneigung und Röhrendimension. In der Summe ergibt das einen einzigartigen Klangkörper, der seine ganz eigenen Schwingungen aussendet. Im Nürnberger Netz etwa liegt anders als unter der Isar kein Schotter im Gleisbett, werden zudem andere Drehgestelle verwendet - mit hörbaren Konsequenzen.

"Hören Sie sich das an", sagt Stephan Schuster jetzt. Er legt den Kopf schief am Einstieg der Rolltreppe im Zwischengeschoss des Marienplatzes, Abgang zur S-Bahn. Ein fideler Takt ist zu hören, wie ihn ein heiterer Flaneur gedankenverloren auf den Oberschenkel klopft. Die Schwester-Treppe daneben stößt dagegen ein hektisches Hämmern aus, ein schon eher passender Pulsschlag für die Betriebsamkeit an diesem Knotenpunkt. "Die Handläufe der Rolltreppen laufen über Umlenkrollen. Jede ist in ihrer Mechanik individuell, und so hören sie sich auch ganz verschieden an", sagt Schuster. Er weiß auch zu berichten von längst verschwundenen Geräusch-Unikaten: Das Umblättern der Anzeigekästen in den Bahnhöfen etwa, die mit leisem Flapp-Flapp-Flapp die Zug-Ziele anzeigten - heute erledigen das stumme Bildschirme. Oder: Das Rascheln von Zeitungen. "Die Leute schauen heute nur noch in ihr Smartphone rein", sagt Schuster.

Klare Ansage

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(Foto: Alessandra Schellnegger)

Fahrgäste im Münchner Schnellbahnnetz haben so manche schallende Zumutung zu ertragen. Da sind die Handy-Quassler, die einen mit privaten Gesprächen behelligen; oder die schmatzenden Döner-Vertilger, auch olfaktorisch eine Plage. Besonderes Missvergnügen bereiten indes oft jene Stimmen, die aus den S-Bahn-Lautsprechern gellen. Damit ist nicht das angenehme Organ der Frau vom Band gemeint, die über den nächsten Halt informiert, sondern die Verspätungs-Durchsagen der Bahn-Ansager. Wie mag es diesen Menschen damit gehen, dass ihre Stimmen zu den meistgehassten der Stadt zählen? Benjamin Krause zuckt mit den Achseln. "Wenn sie meine Stimme nicht hören würden, ist es für die Fahrgäste ja noch schlimmer", sagt der 27-Jährige. Er sitzt im weiten Rund des großen "Ansagezentrums" der Deutschen Bahn an der Donnersbergerbrücke. Dutzende Mitarbeiter mit Headsets blicken auf noch mehr Bildschirme, auf denen bunt markierte Streckenabschnitte zu sehen sind. Von hier aus werden alle Durchsagen für die 150 S-Bahn-Haltestellen in der Region sowie Bahnhöfe in ganz Bayern abgesetzt. Verspätungen, Gleiswechsel, Ausfälle, Ankunft und Abfahrt: Ansager wie Benjamin Krause kabeln das mit wohl modulierter Stimme im Minutentakt durch; auf einem Kamera-Schirm sieht er, wie viele Menschen ihm gerade zuhören. "Ich sehe dann, wie sie regieren", sagt er und fügt hinzu, dass er dabei etwas Gutes für die Menschen tue. "Denn sie wissen dann, warum sie auf dem Bahnhof herumstehen müssen." Immer, so betont er, bemühe er sich um einen ruhigen und gelassenen Tonfall, "vor allem, wenn ich etwas Negatives sagen muss". smüh

Er steht jetzt in einem B-Wagen, der in Richtung Fröttmaning saust. Die U-Bahn ist spärlich besetzt an diesem frühen Nachmittag. Still wischen die Sitzenden auf ihren Geräten herum, umhüllt vom Rauschen des Fahrtwindes, der am Zug zerrt. Seltsam fern kreischen die Stahlräder nervös in der Gleisspur; ab und zu ein Holpern, wenn der Zug über eine geklammerte Schienen-Schramme bügelt, die noch abgeschliffen gehört. Der altgediente Kontrolleur sinniert über die ständig wechselnde Geräuschkulisse im Fahrgastraum: das verschwitzte Grölen der Fußballfans auf der Fahrt zum Stadion. Das Durcheinander-Gequassel der Menschenknäuel während des Oktoberfests. Das Scheppern der Bier-Tragl, die Feiernde zur Isar karren. Das Herumalbern der Schüler, die vergnügt sind, weil der Unterricht zu Ende ist.

Für Schuster ist das alles kein Missklang, er schenkt seiner Heimatstadt schlicht gerne Gehör. Die klassische Musik, die seit 16 Jahren zehn Bahnhöfe beschallt, hört er aber nicht so gern. "Das beruhigt mich nicht." Am Odeonsplatz etwa spielen sie gerade das Allegro aus Vivaldis "Vier Jahreszeiten". Hier klingt München wie Hamburg, London oder Hongkong, die auch ein Projekt "Klassik in der U-Bahn" aufgelegt haben. Die hiesige Playlist umfasst 40 Titel, darunter Stücke von Tschaikowski und Beethoven. Laut einer MVG-Umfrage findet die große Mehrheit der Fahrgäste die Klassik-Beschallung gut.

Stephan Schuster findet andere Töne gut, das Zischen der Espressomaschine im kleinen Kiosk am U-Bahnsteig Ostbahnhof zum Beispiel. Ein relativ neues, junges Detail im Klangteppich dieser Stadt, an dem Bürger und Touristen seit Jahrzehnten weben. Letzte Frage an den Sound-Experten: Ob er einen Lieblingsbahnhof habe? "Ganz klar, der Laimer Platz", sagt er. Verschmitztes Lächeln. "Das ist mein Heimatbahnhof, da bin ich gleich daheim."

Am Dienstag lesen Sie: Der Sound der Stadt im Vieh- und Schlachthof

© SZ vom 05.09.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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