Serie:Der Münchner Kiosk ist ein soziologisches Phänomen

Kiosk "Fräulein Grüneis" in München, 2013

Manche halten München mal wieder für provinziell. Wen juckt's, wenn man in einer Idylle wie dem Kiosk "Fräulein Grüneis" am Eisbach herumstehen darf?

(Foto: Catherina Hess)

Wer wissen will, was den Münchner und seine Stadt wirklich bewegt, der geht am besten in den Kiosk um die Ecke.

Von Franz Kotteder

Die schönsten Blumen blühen oft im Verborgenen, heißt es, und manche Rinnsteinpflanze besitzt eine edle Seele. Behauptet zumindest die romantische Literatur seit Jahrhunderten. Tatsache ist: Man geht in einer Stadt oft achtlos vorbei an Dingen und Orten, die genauerer Betrachtung wohl würdig und wert wären, weil man sie als selbstverständlich hinnimmt oder als zu geringfügig einstuft.

Welch gewaltiger Fehler! Gerade über das vermeintlich Unscheinbare lässt sich das Wesen einer Stadt und ihrer besonderen Gemeinschaft von Menschen erst so richtig erfahren. Es sind ja selten die herausragenden Einrichtungen und Orte einer Stadt, die auch für ihre Alltagskultur stehen. Bei allem Respekt: Aber steht das Nationaltheater mit seiner Jahrhunderte alten Opernkultur quasi symbolhaft für den ganz normalen Durchschnittsmünchner an sich? Oder lässt sich der nicht vielleicht doch eher in einer Boazn oder einem Stüberl irgendwo in den Stadtteilen kennenlernen und studieren?

Nun geht es im Stüberl vorrangig um den Verbrauch alkoholhaltiger Getränke (nicht selten gar um deren Missbrauch!), weshalb man dort sicher noch keinen repräsentativen Querschnitt der Stadtgesellschaft und der Alltagskultur vorfinden kann. Den trifft man hingegen an anderen, noch viel unscheinbareren Orten an: den Kiosken nämlich.

Ausnahmslos jeder braucht sie und nutzt sie, aus den unterschiedlichsten Gründen, und anders als bei einer Boazn würde kein Mensch sagen: "Zum Kiosk? Tät' ich niemals hingehen, so tief kann ich gar nicht sinken." Dem Kiosk haftet also etwas Wertfreies an, und dennoch kann er viel aussagen über die Gegend, in der er steht, und über die Menschen, die bei ihm einkaufen.

Der Kiosk an sich ist ohnehin eine sehr wandelhafte Angelegenheit. Das Wort stammt aus dem Persischen und bezeichnete eigentlich einen Pavillon oder ein Gartenhaus in Palastanlagen; über das Französische kam das Wort ins Deutsche. Im 19. Jahrhundert stand es für ein kleines orientalisches Schlösschen. Das war natürlich etwas für Ludwig II. Der ließ nicht nur für Schloss Linderhof einen maurischen Kiosk bauen, sondern auch für den legendären Dachgarten der Münchner Residenz. Nur der in Linderhof steht noch und ist auch zu besichtigen.

Vom Kulissenzauber für den Märchenkönig bis zum Standl von heute ist ein weiter Weg, bei dem einiges an Pracht und Prunk verloren ging. Mit dem architektonischen Reiz ist es bei heutigen Kioskbauten sowieso nicht weit her, und München ist auch keine typische Stadt des Kiosks. Da denkt man eher an Paris, wo man seit dem großen Stadtumbau unter Baron Haussmann dringend Verkaufsstände mit kleinen Speisen und Getränken brauchte. Ohne sie wäre man unterwegs auf den riesigen Boulevards und in den Parks wegen der großen Entfernungen verhungert und verdurstet.

Oder man denkt an das Ruhrgebiet mit seinen Buden, Büdchen und Trinkhallen, ohne die der Pott nicht so wäre, wie er ist. Wobei gerade die Trinkhalle ein Beleg dafür ist, wie man mit einer guten Absicht grandios daneben liegen kann. Eigentlich waren Trinkhallen nämlich von reichen Fabrikbesitzern errichtet worden, damit ihre Arbeiter dort reines und gesundes Wasser trinken konnten, das es sonst kaum gab, und nicht auf Bier und Schnaps auswichen. Der Plan ging grauenhaft schief, man kann das heute in jeder besseren Trinkhalle nachprüfen.

Wie sich die Münchner Weltläufigkeit äußert

Was ein richtiger Kiosk ist, der passt sich eben den Bedürfnissen jener an, die ihn brauchen. Gerade deshalb steht er für die faszinierende Mischung aus Weltstadt und Provinz. Jene, die unentwegt über die unsägliche Provinzialität Münchens zetern, führen als Beleg gerne die weitgehende Nichtexistenz von sogenannten Spätis an. So nennt man in Berlin Verkaufsstände, die bis spät in die Nacht oder gar rund um die Uhr offen haben. Man braucht die in Berlin ja auch, weil dort vor Mitternacht praktisch nichts los ist.

Münchner Weltläufigkeit äußert sich jedoch anders. Beispielsweise in jenem Kiosk, den es im Untergeschoss des Marienplatzes nahe der öffentlichen Toiletten bis vor einigen Jahren noch gab. (Dann kamen über viele Monate hinweg immer neu mäandernde Wellblechwände, bevor im vergangenen Oktober das neue Untergeschoss eröffnet wurde, das so strahlend herausgeputzt aussieht, als hätten es die beauftragten Architekten des Büros Allmann Sattler Wappner mit den eigenen Zungen so sauber hergeschleckt. Aber das ist eine andere Geschichte.)

Damals jedenfalls hatte ein junger Türke diesen Kiosk, an dem es vom "August" - das ist der gebräuchliche Szenejargon für eine Flasche Augustiner - über den Schnürsenkel bis zum Feuerzeug nebst Tabakwaren alles gab, was der Münchner im Notfall eben so braucht, wenn er sich abends oder nachts in der Innenstadt herumtreiben will. An der Wand hinter der Kasse hingen Bilder von Christian Ude, Che Guevara und Kemal Atatürk. In jeder Hinsicht eine interessante Kombi, die irgendwie auch sinnbildhaft stand für die Stadt mit dem höchsten Ausländeranteil der Republik.

Münchens Kioske beschränken sich mittlerweile auf Kernkompetenzen

Auch dieser, wenn man so will: "maurische Kiosk" ist leider Geschichte und musste dem gesichtslosen Nullachtfuchzehneinerlei aus Fastfood und Bahnhofspresse weichen. Ein Schicksal, das er mit vielen Kiosken in den Stadtvierteln teilt. Das volle Sortiment mit Steckerleis, Panini- und anderen Sammelbildchen, Gummischlangen, Micky Maus und Fix und Foxi, Landser- und Arztromanen sowie der Lottoannahme gibt es ohnehin kaum noch. Auch Münchens Kioske beschränken sich mittlerweile auf Kernkompetenzen.

Aber auch die sind bisweilen aufschlussreich für den, der Kioske richtig zu lesen versteht. Allein das Angebot an den Zeitungs- und Zeitschriftenständen ist vielsagend und erlaubt allerlei soziologische Mutmaßungen über den Standort und seine Nachbarschaft: Überwiegen Unterschichtenillustrierte diesseits der Ein-Euro-Marke oder Landlust und Feinschmecker? Liegt der Playboy aus oder billige Sexheftl? Geht's gar weniger um Papier, sondern mehr um eingeschweißte Würstl und diverse Biere?

Dann ist gewiss der nächste Grillplatz nicht weit und die Kundschaft eher jugendlich. Sieht man sich einem breiten Sortiment an Souvenirs gegenüber, dann ist's nicht mehr weit zum Glockenspiel oder zum Hofbräuhaus, und zugleich lernt man, wie bereitwillig sich eine Stadt zum Deppen macht, solange sich Geld damit verdienen lässt.

Der Gang zur verborgenen Blume Kiosk ist also fast immer aufschlussreich, wenn auch nicht nur ein reiner Quell der Freude.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: