SZ-Adventskalender:"Wir hatten sehr Angst"

SZ-Adventskalender: Jeder Tag ein Ringen um die gemeinsame Zukunft: Die Eltern wollen keinen ihrer schwer behinderten Söhne in ein Heim geben.

Jeder Tag ein Ringen um die gemeinsame Zukunft: Die Eltern wollen keinen ihrer schwer behinderten Söhne in ein Heim geben.

(Foto: SZ)

Weil es für ihre Kinder in Afghanistan keine Zukunft gab, floh die Familie Mohammadi - zu Fuß. Jetzt wollen sie sich in München ein neues Leben aufbauen. Dabei ist ihnen vor allem eines wichtig: dass sie mit ihren drei behinderten Söhne zusammenbleiben.

Von Bernd Kastner

Shaiera weiß noch gut, wie sie im Bahnhof diesen Mann getroffen hat, es war vor drei Jahren. Er hatte ihren Ausweis verlangt und sie hat ihn gefragt, in welcher Stadt sie denn seien. "Munich." Ob das denn in Germany liege, fragte sie dann noch, und als sie ein "yes" vernahm, da hat sie gerufen: "Okay, alles perfekt!"

Die erste Nacht in Germany hat Shaiera mit ihrem Vater und zweien ihrer Brüder in einer Zelle verbracht, wegen illegaler Einreise, so wollen es die deutschen Gesetze. Hinter der Familie Mohammadi (Namen geändert) lagen Wochen der Flucht, Kabul, Moskau, München, sie waren lange zu Fuß unterwegs. Der Vater hat Rostam, 13 Jahre alt damals, nächtelang getragen. Tochter Shaiera, ihre Mutter Zinat und ihr Vater Asadullah erzählen all das mit einem Lächeln, als könnten sie selbst nicht glauben, was sie überstanden haben. Und noch immer ist jeder Tag ein Ringen um die gemeinsame Zukunft.

In Afghanistan gab es kein Leben in Würde

Sie wollen zusammenbleiben, wollen keines der Kinder ins Heim geben, auch wenn es sehr viel Kraft kostet, die drei Söhne zu Hause zu versorgen. Sie sind schwer behindert. Gerade hat der Vater Rostam an den Tisch geführt und seine Hand massiert. Am Boden steht ein Eimer. Rostam kann nicht sprechen, kann nur schwer laufen, und er muss sich immer wieder erbrechen, deshalb der Eimer. Nawab sitzt auch mit am Tisch, er ist sehr unruhig. Die Eltern hören zu, wie ihre Tochter Shaiera, die gut Deutsch spricht, die Geschichte der Familie erzählt.

Davon, dass sie daheim, in Afghanistan, große Probleme wegen der Taliban hatten; dass sie, die Tochter, in ihrem Heimatort nicht zur Schule gehen konnte, weil sie ein Mädchen ist. Bei der Großmutter musste sie wohnen, weit entfernt, dort durfte sie den Unterricht besuchen. Für ihre drei behinderten Brüder aber habe es nichts gegeben, keine Förderung, schlechte medizinische Versorgung, kein Leben in Würde. Also haben sie sich auf den Weg gemacht, der Kinder willen. Sie riskierten alles.

"Ich habe nur noch geweint"

In Moskau durften sie nicht bleiben. Es folgten 16 Stunden im Bus, vermutlich sind sie in die Ukraine gefahren, genau wissen sie es nicht. Dort hatten sie vorübergehend eine kleine Wohnung, ohne Toilette, ohne Möbel, sie haben auf dem Boden geschlafen, es war kalt. Weiter ging die Flucht in mehreren Etappen, mal mit dem Auto, mal zu Fuß, wochenlang. Einmal hat ein Fahrer sie nachts in einem Maisfeld ausgesetzt, wo sie Stunden ausgeharrt haben. "Wir hatten sehr Angst", sagt Shaiera.

Sie wussten, dass es Schlangen gibt in der Gegend. Um vier Uhr morgens tauchten zwei Personen auf, sie führten die Familie weiter. Als der Vater erschöpft war, musste er seinen Jungen den Helfern zum Tragen überlassen, und Shaiera konnte irgendwann auch nicht mehr vor Schmerzen. "Ich habe nur noch geweint." Irgendwann kam wieder ein Auto, sie stiegen alle sieben ein, und dann fuhren sie, zwei ganze Tage lang. Sie saßen dicht gedrängt, müde, hungrig, schmutzig, bis sie an einem Bahnhof namens Munich standen.

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Rostam wurde inzwischen mehrfach operiert, aber die Ärzte wissen noch immer nicht, woran genau er leidet. Immer muss jemand bei ihm sein. Die Eltern wechseln sich ab in der Betreuung ihrer Kinder, die Familie hängt sehr aneinander. Zu Hause war der Vater Sprachlehrer für Dari, jetzt ist er im Rentenalter. Seine Frau würde gerne arbeiten, sie lernt Deutsch.

Die Eltern zeigen keine Spur von Verbitterung

Der Vater bittet seine Tochter zu übersetzen, dass die Familie sehr, sehr dankbar ist für die Hilfe, die sie in Deutschland erhalte. Zimmer 114, zum Beispiel. Diese Nummer vergessen sie nie, weil hinter dieser Tür im Wohnungsamt eine sehr, sehr hilfsbereite Frau sitzt. Nachdem sie eineinhalb Jahre nur zwei Zimmer hatten zu siebt, wohnen sie inzwischen in einer ausreichend großen, städtischen Wohnung.

Dieses Lächeln der Eltern! Keine Spur von Verbitterung oder Erschöpfung, stattdessen strahlen sie Dankbarkeit und Zufriedenheit aus: Weil sie wissen, dass sie ihren Kindern einen guten Start ins Leben ermöglichen. Subhan, der jüngste Sohn, besucht die fünfte Klasse Mittelschule. Er will später aufs Gymnasium wechseln. Shaiera hat auch ein großes Ziel: Sie, die ihr Abitur mit 1,0 gemacht hat, möchte Medizin studieren. Das Abi ist anerkannt, aber ihr Deutsch muss noch besser werden fürs Studium. Das Geld für den nächsten Sprachkurs aber hat die Familie nicht. Die Mutter wäre dankbar für eine Spülmaschine für den Sieben-Personen-Haushalt, und noch mehr für einen Wäschetrockner. Weil Rostam so oft erbricht, muss er ständig die Kleidung wechseln. So oft, dass sie kaum trocken wird in der Wohnung.

Leseraktion

Während der letzten Spendenaktion des "Adventskalenders für gute Werke" übernahm Anita Niedermeier, 54, die Geschäftsführung des Hilfswerks der SZ-Leser. Anita Niedermeier, die zuvor im Rechnungswesen des Verlages tätig war, wacht dabei nicht nur über die mehr als 25 000 Spendeneingänge jährlich und die finanziellen Hilfen für die vielen Tausend Mitbürger in München und der Region, sondern prüft sorgfältig und genau auch die Bedürftigkeit der Empfänger und achtet auf eine gerechte Verteilung der Spenden. An diesem Mittwoch, 10. Dezember, steht sie von 11 bis 16 Uhr im SZ-Servicezentrum, Fürstenfelder Straße 7, allen Lesern und Spendern zur Verfügung, zum persönlichen Kennenlernen ebenso wie für Anregungen, Fragen und Auskünfte zum SZ-Adventskalender. SZ

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