SZ-Adventskalender:Einmal noch die Berge sehen

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Der große Traum von Ingrid H.: noch einmal verreisen. (Foto: Catherina Hess)

Ingrid H. hat früher bedürftigen Menschen geholfen. Jetzt schafft sie zu Fuß keine 50 Meter mehr.

Von Monika Maier-Albang, München

"Ich habe in meinem Leben alles mitgenommen", sagt Ingrid H. - und sie meint weder Geld noch die schönen Dinge. Sie hat, seit Jugendtagen, eine undefinierbare Muskelerkrankung. "Lange haben die Ärzte gesagt, es sei Multiple Sklerose", erzählt Frau H., doch dann stellte sich heraus: Eigentlich kann niemand so genau sagen, an was sie erkrankt ist. Ingrid H. kann nur sagen, wie es sich äußert: Die Hände werden taub, die Beine schwer, "schubweise schwindet dann meine Kraft". Vor ein paar Jahren konnte sie bei einem Ausflug in die Berge immerhin noch bergab gehen. "Heute schaffe ich in der Ebene keine 50 Meter mehr."

Ingrid H. war früher sportlich; sie war Schwimmtrainerin, ist Ski gefahren. Auf der Piste hatte sie 1963 einen schweren Unfall. "Mein Schädel war gebrochen, ich blutete aus dem Mund." Symptome einer Muskelerkrankung hatte sie vor dem Unfall schon, danach aber kamen die Schwächeanfälle häufiger. Ihr Sportstudium musste sie aufgeben, sie ging als Angestellte in ein Büro. Doch auch das Sitzen wurde mit der Zeit zu beschwerlich.

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:"Gerade bin ich total verzweifelt"

Früher hat Michael H. Touristen weiße Strände am Indischen Ozean gezeigt. Heute muss er im Rollstuhl sitzen. Das ist oft mühsam und einsam für ihn.

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Seit 1970 bekommt Ingrid H. eine Erwerbsunfähigkeitsrente. Lange war immer noch ein bisschen Geld da, das den Alltag erträglicher machte: Sie verkaufte die Briefmarkensammlung des Vaters, den Schmuck der Mutter, ihre Lebensversicherung. Ging zum Heilpraktiker, machte eine Frischzellentherapie, die ihr, wie sie sagt, sehr gut getan habe. "Ich bin ja nicht der Typ, der aufgibt", sagt Ingrid H., "ich habe alle Möglichkeiten ausgeschöpft. Und alles Geld ausgegeben."

Vor ihrer Tür steht heute ein Scooter, ein Elektromobil, ohne das die 83-Jährige nicht auf die Straße könnte. "Mein Rennauto", nennt es Ingrid H.. Sie fährt damit zum Schachkurs im Senioren-Treff - und zu den vielen Arztbesuchen. Sie hat ja auch noch Osteoporose, chronisches Asthma und Probleme mit den Augen. Dass sie sich nicht mehr so einfach und frei bewegen kann wie früher, kommt sie schon hart an; sie ist ja früher so gern gereist. Als junge Frau ist sie bis nach Italien getrampt. "Der Vater hatte es verboten und ein Zugticket gekauft." Das hat sie an der nächsten Haltestelle zu Geld gemacht und ist mit einer Freundin gen Süden aufgebrochen. Eine Weltreise hatten die Frauen geplant - dann passierte der Unfall.

Ihre Reiselust hat sie später mit anderen geteilt; sie hat einen Verein aufgebaut, "die Schwalben", der Senioren Urlaubsfahrten ermöglicht hat. Drei Jahrzehnte war Ingrid H. selbst in einer Kirchengemeinde ehrenamtlich tätig und hat bedürftigen Menschen geholfen. Jetzt schafft sie es mit Mühe und Not, sich die Aufbaupräparate und Medikamente zu kaufen, die sie braucht: Vitamine, Kalzium, Magnesium, Augentropfen.

Der Scooter braucht neue Reifen

Bei ihrem Scooter sind die Vorderreifen abgefahren und müssten erneuert werden - Kosten: 270 Euro, 1 Cent. Die Krankenkasse wird das nicht übernehmen; sie möchte, dass Frau H. ein anderes Modell fährt. Aber mit dem Rollstuhl, der gerade mal acht Jahre alt ist, komme sie gut zurecht. "Das sind doch meine Ersatzbeine." Ingrid H. will den Scooter nicht aufgeben, zumal das alternative Fahrzeug zwei Zentimeter länger ist. "Damit nimmt einen die Bahn nicht mit."

Und Ingrid H. hofft, ihre Geschwister in Osnabrück besuchen zu können. Und vielleicht noch einmal die Berge sehen? Irgendwo, ein Hochplateau über 1000 Meter mit einer schönen Sicht. Da bekomme sie gut Luft. "Das wäre toll."

© SZ vom 22.12.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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