SZ-Adventskalender:Die Ersatzfamilie

"Altern im Alltag" ist ein Projekt des Sozialreferats, bei dem sich Ehrenamtliche über Jahre um Senioren kümmern. Dabei geht es weniger um praktische Hilfe als um emotionale Unterstützung

Von Annette Jäger

Weihnachtsessen des Projekts Altern im Alltag. Besucher und ehrenamtliche Helfer. Jeweils Paare.

Ein bisschen Lebensmut: Franka Henke und Jürgen Weißbarth, hier bei der Weihnachtsfeier, sind seit mehr als einem Jahr ein Team.

(Foto: Florian Peljak)

Schneeflocken tanzen durch die kalte Winterluft an diesem Sonntagabend. Am Boden schmelzen sie zu grauem Matsch. Ein Taxi hält vor der Gastwirtschaft Echardinger Einkehr, zwischen Innsbrucker Ring und Michaelibad. Die Beifahrertür öffnet sich, Inge Solda setzt einen Fuß in den Schneematsch und schafft es nicht ganz, den zweiten und gleichzeitig die Krücken dazuzusetzen. Da kommt Christina Zöttl schon, stützt Inge Solda am Arm, hilft ihr aus dem Taxi und passt auf, dass die alte Dame nicht stürzt auf den rutschigen Metern zur Eingangstür.

Einfach mal die Wohnung verlassen, rausgehen, sich unter Leute begeben, um auf andere Gedanken zu kommen - das klingt so simpel und ist doch für viele ältere Menschen ein Ding der Unmöglichkeit. Ohne Taxi, ohne Hilfe eines anderen, der einen Arm als Stütze anbietet, hätte Inge Solda an diesem Sonntag nicht zum Weihnachtsessen des Münchner Projekts "Altern im Alltag" kommen können.

Genau für Menschen wie Inge Solda ist das Projekt des Sozialreferats vor etwa vier Jahren aber initiiert worden: ältere Menschen, die alleine zuhause leben, oft körperlich eingeschränkt sind, sehr wenig Geld zur Verfügung haben und ein wenig Unterstützung im Alltag benötigen. Schnell ist dabei deutlich geworden, dass es weniger praktische Hilfe ist, die die Menschen benötigen, sondern dass vielmehr emotionale Unterstützung im Alltag gefragt ist. Wer nicht mehr vor die Tür kann, weil er körperlich eingeschränkt ist, wer kaum Geld hat, um sich mal was zu gönnen, ist schnell isoliert. Freundschaften zerbrechen, die Familie lebt oft weit weg oder es gibt keinen Kontakt zu ihr. Was bleibt, ist die Einsamkeit als ständiger Mitbewohner.

Die mehr als 20 Ehrenamtlichen des Projekts wollen ein wenig Licht in diesen beschwerlichen Alltag der Senioren bringen. Sandra Bauer, die das Projekt leitet, hat Paare gebildet: jeder Senior hat seinen festen Ehrenamtlichen wie einen Paten an der Seite. Die Helfer besuchen ihre Senioren etwa einmal in der Woche, oder verabreden sich spontan. Sie essen zusammen, spielen ein Gesellschaftsspiel, reden einfach nur oder machen einen Ausflug. So sind über die Jahre Freundschaften entstanden, ein Gefühl familiärer Bindung ist gewachsen.

So wie bei Inge Solda und ihrer Helferin Christina Zöttl. "Es ist fast wie mit einer Tochter", sagt Solda und greift nach der Hand ihrer Helferin. Nach einem schweren Treppensturz ist die 77-Jährige nie mehr ganz gesund geworden, die Wirbelsäule ist geschädigt. Inge Solda benötigt Krücken, ohne Christina Zöttl würde sie nicht mehr aus ihrer Wohnung kommen. Zöttl ist voll berufstätig, wollte sich aber zusätzlich ehrenamtlich engagieren. Alle paar Tage ruft sie bei der alten Dame an, "wenn wir uns treffen sitzen wir auf dem Sofa und reden und reden", sagt Solda. "Es macht mir Freude, dass jemand nach mir schaut."

Das Weihnachtsessen in der Echardinger Einkehr ist ein Ritual. Zwei- bis dreimal im Jahr treffen sich alle Senioren und Ehrenamtlichen des Projekts in der Gaststätte, im Sommer im Biergarten. Es sind lieb gewonnene Stunden in Geselligkeit, zu denen manche Ältere erst überredet werden mussten. Nicht immer ist es für sie einfach, Vertrauen zu schöpfen, unter Leute zu gehen, sich zu zeigen. Aber dann tut es doch so gut, wenn es jemanden kümmert, wie es einem geht. Das hat auch Jürgen Weißbarth erfahren. Der 82-Jährige ist mit seiner jungen Helferin Franka Henke gekommen. Er weiß, wie es sich anfühlt, wenn einem der Lebensmut abhanden kommt. Die Stimme versagt ihm, als er das so formuliert. Zwölf Jahre lang hat er seine demenzkranke Frau gepflegt, selbst hat er viele Herzoperationen hinter sich, der Sohn ist viel zu früh gestorben, Freunde gibt es keine mehr. Wenn Franka Henke kommt, essen die beiden Kuchen, trinken Tee, manchmal erledigt sie Schreibsachen für ihn. Einmal sind sie zusammen auf seine Hütte in die Berge nach Österreich gefahren. "Ich will etwas Gutes zurückgeben und einem Menschen helfen, der es verdient hat", sagt sie. Die beiden sind seit über einem Jahr ein vertrautes Team.

Meist vermitteln Sozialdienste die Senioren an das Projekt, sagt Sandra Bauer. Gisela Ruf war eine Seniorin der ersten Stunde, erinnert sie sich. Die 74-Jährige ist fast blind, schon häufig ist sie vom Bahnsteig auf die U-Bahn-Gleise gestürzt, weil sie nichts gesehen hat. Ihre Wohnung ist vor einiger Zeit ausgebrannt, "es waren schwere Zeiten", sagt Ruf, lachen kann sie trotzdem. Vor allem, als ihre Helferin Luisa Sommer kommt. Die beiden umarmen sich zur Begrüßung, "ich bin mit meiner Enkelin hier", sagt Gisela Ruf. So fühlt es sich für sie an, wenn die junge Frau bei ihr ist.

Jeder bringt seine eigene Geschichte zum Weihnachtsessen mit, aber in Geselligkeit tritt sie für ein paar Stunden in den Hintergrund. Viele junge Ehrenamtliche sind bei dem Projekt dabei, die jüngste ist 14 Jahre alt. Insgesamt 40 Leute sitzen um den Tisch, Senioren und Ehrenamtliche. Am schönsten wäre es, es würden noch mehr werden, meint Bauer. Sie will das Projekt erweitern, sie sucht noch mehr Ehrenamtliche. Denn hinter so vielen Münchner Haustüren leben ältere Menschen, die allein sind und Hilfe brauchen.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: