Suchtprävention:Wenn eine Tasse Kaffee überlebenswichtig wird

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Charlie Wimmer hat noch einmal die Kurve bekommen - dank Münchens einziger alkoholfreier Bar. Hier finden suchtkranke Arbeitslose Hilfe und einen Job. Doch das Projekt ist bedroht. Die Angst vor einem Rückfall steigt.

Sebastian Ehm

Alfred Wimmer, den hier alle nur "Charlie" nennen, spricht den Satz merkwürdig unaufgeregt aus: "Vielleicht nehme ich mir das Leben - oder ich fange wieder mit dem Saufen an." Der 50-Jährige sitzt an einem Tisch im Lokal "Zum Steg", einer besonderen, alkoholfreien Bar an der Dachauer Straße 29. Vor sich eine Tasse Kaffee.

Ein bisschen wie Familie: Charlie Wimmer (links), Georg Grau (Zweiter von links) und andere Gäste in der alkoholfreien Bar "Zum Steg". (Foto: Sebastian Ehm)

Diese Tasse bedeutet Charlie sehr viel. Sie gibt seinem Leben eine Struktur, die für ihn so wichtig ist. Und die nun bald zerbrechen könnte. Bei der Förderung suchtkranker Arbeitsloser werden seit April Gelder eingespart. Die Folgen sind für Charlie fatal. Er musste seinen Ein-Euro-Job vorzeitig aufgeben - und die Gaststätte "Zum Steg", der Ort, der seinem Leben Struktur gibt, ist bedroht.

Charlie ist Langzeitarbeitsloser mit "Vermittlungshemmnissen" - so heißt das in der Amtssprache. Umgangssprachlich würde man sagen: Charlie war jahrelang schwerer Alkoholiker. "Meine Mutter hatte eine Wirtschaft und seit ich klein war, kannte ich kein anderes Lebensmittel als Bier", sagt er. Weil er als selbständiger Spediteur viel Stress hatte, griff er immer öfter zur Flasche. Insgesamt musste er dreimal seinen Führerschein abgeben. Er wurde deswegen arbeitslos, verlor Frau und Kind. Seit drei Jahren ist Charlie trocken. Irgendwann ging es einfach nicht mehr.

Er begab sich in Behandlung und landete beim Club 29 - einer Einrichtung, die suchtkranke Menschen betreut und ihnen Arbeit vermittelt. Hier fand Charlie eine neue Bestimmung. Während er ruhig von seinem bewegten Leben erzählt, nippt er immer wieder am Kaffee. Charlie leitet heute eine Selbsthilfegruppe. Jeden Samstag setzen sich Leute mit ähnlichen Problemen zusammen und reden. Davor, danach und an vielen anderen Tagen der Woche treffen sich die Suchtkranken in der Gaststätte "Zum Steg", auch ein Projekt des Club 29.

Der helle Gastraum ist orangefarben gestrichen. Blaue und grüne Tischdecken sowie kleine Blumengestecke zieren die Tische. Es erinnert ein bisschen an ein Kaffeehaus für Rentner. Ruhig ist es - ganz leise summt im Hintergrund das Radio. Das alles passt nicht so ganz zu Charlie, der eher aussieht wie ein Rocker: schwarze Lederhose, schwarzer Harley-Davidson-Pulli und sehr viele Ohrringe.

Am Tisch sitzen Leute mit einem ähnlichen Schicksal wie Charlie. Sie reden über alles Mögliche, aber hauptsächlich darüber, wie viel ihnen der Steg bedeutet und wie er zum Mittelpunkt ihres Lebens geworden ist. Für manche ist die Gaststätte Arbeitsplatz, für viele andere Anlaufstelle. Schwer vermittelbare Langzeitarbeitslose können im Steg arbeiten, oder aber sich einfach nur zusammensetzen und sich unterhalten. Es ist das niederschwelligste Angebot beim Suchthilfeverein Club 29. Jeder kann vorbeikommen und sich setzen - ganz ohne Zwang, etwas zu kaufen. Ein guter Ort für Leute, die sich einsam und unsicher fühlen.

Bis vor kurzem war das an jedem Tag der Woche möglich. Seit einiger Zeit geht das jedoch nicht mehr. Das Angebot für Suchtkranke, jeden Tag in "gesicherter Umgebung" verbringen zu können, musste man aufgeben. Sonntags hat die Gaststätte seit kurzem komplett geschlossen. "Wir bekommen den Dienstplan nicht mehr voll", sagt der Geschäftsführer des Club 29, Georg Grau.

Für Alkoholkranke wie Charlie Wimmer ist das fatal. Jede Stunde, die man alleine zu Hause verbringt, birgt die Gefahr eines Rückfalls. "Zu Hause bin ich einsam, liege auf der Couch und weiß nichts mit mir anzufangen", sagt er. Dass bei Charlie zusätzlich auch noch die regelmäßige Arbeit als Gruppenleiter wegfällt, macht die Sache noch schlimmer.

Schuld an der Misere ist die derzeitige Bundesregierung", meint Grau. Es sei viel zu wenig Geld da, um die Probleme suchtkranker Langzeitarbeitsloser zu lösen. Grau spricht von unnötig drastischen Einsparungen und einer unfairen Arbeitsmarktreform. Zusätzlich sei das Jobcenter unterbesetzt: "In den vergangenen Monaten ist man dort mehr mit der sogenannten Instrumentenreform beschäftigt gewesen, als sich um die Bedürftigen zu kümmern."

Das Jobcenter München weist diese Vorwürfe zwar zurück. Tatsächlich räumt ein Sprecher aber ein, in den vergangenen Monaten zu wenig Personal gehabt zu haben. Nach wie vor kommen in den Jobcentern zu wenige Betreuer auf zu viele Arbeitslose. Trotzdem musste man bis 1. April dieses Jahres die Reform umsetzen. Deren Ziel ist es, die Vermittlung auf dem Arbeitsmarkt effektiver und effizienter zu machen.

Die Auswirkungen spürt man im Club 29 und in der Gaststätte "Zum Steg" gewaltig. Wegen der Budgetkürzungen bei den Jobcentern und der anschließenden Reform fallen sieben von 17 Stellen weg. Die direkte Folge ist, dass immer weniger suchtkranke Langzeitarbeitslose in Einrichtungen wie dem Club 29 einer geregelten Arbeit nachgehen können.

Grau befürchtet deswegen weitere Kürzungen im Dienstplan, für ihn macht das alles wenig Sinn: "Das Geld wird bei Präventionseinrichtungen wie uns gespart und dann für den späteren Entzug trotzdem ausgegeben." Entscheidend für die Suchtkranken sei eine Struktur oder ein Ort, der ihnen Halt gibt, ansonsten steige die Gefahr für Rückfälle enorm.

Je länger Charlie Wimmer erzählt, desto ratloser erscheint er. Von Juni an ist er ohne Anstellung. Die Lage ist ernst. Er zieht ein Foto eines ehemaligen Kollegen heraus. Das Bild zeigt einen Mann mittleren Alters mit aufgedunsenem, zerschundenem Gesicht. "Wir haben zusammen beim Club 29 gearbeitet. Vor kurzem hatte er einen schweren Rückfall, jetzt ist er auf Entzug in Haar."

© SZ vom 30.05.2012 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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