Stellwerk in Tüssling:Abschied von der Eisenbahn-Nostalgie

  • In einem Stellwerk in Tüßling werden Weichen und Signale noch per Hand gesteuert: Züge nach Mühldorf und Freilassing leitet ein Fahrdienstleister mit Hebeln und Drahtseilen.
  • Auch während der Fahrt mit einem ganz normalen Zug kann man dort Einblicke in die Historie der Eisenbahn erleben: Einige Streckenabschnitte funktionieren schon mit moderner Technik.
  • 2016 sollen Stellwerk und Weichenwärterhäuschen abgerissen werden - die Modernisierung wird vor allem von den Industriebetrieben im bayerischen Chemiedreieck gefordert.

Von Marco Völklein

Nein, nach Provinzbahnhof sieht das hier wahrlich nicht aus. Gerhard Weber hat eine Menge zu tun. Gerade ist ein Güterzug mit Kesselwaggons von Burghausen reingerattert in den kleinen Bahnhof bei Tüßling. Der wartet jetzt darauf, dass Weber ihn abfahren lässt auf die Strecke nach Mühldorf. Die Gleise sind allerdings noch belegt. Weber muss erst noch die Regionalbahn nach Garching durchlassen, bevor er den Güterzug auf die eingleisige Strecke lassen kann. Zudem kommt aus der Gegenrichtung in Kürze ebenfalls noch ein Personenzug. Auch den muss Weber dann abarbeiten.

Wenn schwere Hebel und Muskelkraft über die Fahrtrichtung entscheiden

Das Besondere: Fahrdienstleiter Weber arbeitet in dem kleinen Stellwerk in Tüßling noch ungefähr so, wie seine Vorvorvorgänger es vor Jahrzehnten bereits taten. Die Weichen und Signale stellt Weber noch per Hand. Wird ihm ein Zug über das Display der Zugnummernmeldeanlage angekündigt, muss Weber entscheiden, auf welches Gleis er ihn schickt.

Dazu muss er aufstehen von seinem Schreibtisch, einige schwere Hebel herumwuchten, an einer großen Schalttafel zahlreiche metallene Tasten drücken, deren Bedeutung nur Insider verstehen, und mit einer Kurbel eine elektrische Spule betätigen. Über lange Drahtseile, die draußen an den Gleisen entlang laufen, werden so die Weichen ausgerichtet und die Signale gestellt. Alles mit Muskelkraft. Ganz so wie damals, in den Urzeiten der Eisenbahn.

Auf der Strecke von München nach Mühldorf und Freilassing lässt sich so eine Zeitreise in die Historie der Eisenbahn erleben. Und ein Ausblick auf die Zukunft des Schienenverkehrs werfen. Alles parallel. Gleichzeitig. Während man mit einem ganz normalen Zug die Strecke befährt.

Wie Nostalgie und moderne Technik sich ergänzen

So sitzt an diesem Montagmorgen Lokführer Anton Maier im Führerstand des Regionalzugs RB 27033 von München nach Mühldorf. Bei der Ausfahrt aus dem Hauptbahnhof hat er sich an Lichtsignalen orientiert. Ein rotes Licht zeigte ihm an, dass die Strecke vor ihm noch gesperrt ist. Bei grünem Licht durfte er mit seiner mehr als 3000 PS starken Lok raus auf die Strecke.

Über den Bahn-Südring geht es zum Ostbahnhof, von dort über Riem und Feldkirchen nach Markt Schwaben. Dann wird die Strecke eingleisig. Und kurz vor Hörlkofen taucht der Bahner dann ein in die Welt der alten Eisenbahn. Die allerdings genauso tadellos funktioniert wie die moderne Technik.

Statt auf Licht- muss Lokführer Maier nun auf Formsignale achten. Eine runde, gelbe Scheibe als Vorsignal zum Beispiel zeigt ihm an, dass das Hauptsignal in einiger Entfernung noch auf "Halt" steht. Maier drosselt die Geschwindigkeit. In Hörlkofen selbst winkt Lokführer Maier dem Fahrdienstleiter zu, der in einem kleinen Verschlag sitzt, angebaut an den alten Bahnhof. Ähnlich sieht es aus auf der weiteren Strecke Richtung Osten, in Thann-Matzbach etwa, in Schwindegg und in Weidenbach. Überall sitzen Fahrdienstleiter, die mittels Hebeln und Drahtseilen die Signale und Weichen bedienen.

Alles noch wie in den Vierzigerjahren - fast alles

Dazwischen allerdings gibt es auch Abschnitte mit moderner Technik. Die Gleise im Bahnhof Dorfen zum Beispiel steuert der Fahrdienstleiter seit 2003 mittels Computertechnik. Auch in Mühldorf hat die Südostbayernbahn, kurz SOB, eine Tochter der Deutschen Bahn, vor einigen Jahren ein modernes Computerstellwerk errichtet, ein ESTW, ein elektronisches Stellwerk. Von dem aus steuern die Fahrdienstleiter unter anderem den Rangierbetrieb im Bahnhof Mühldorf, aber auch viele Strecken im SOB-Gebiet.

Die Systematik dort ähnelt der in den alten Stellwerken entlang der Strecke: Weichen tauchen auf dem Bildschirm mit blauen Farben auf, Signale sind rot markiert. Eingestellte "Fahrstraßen", also Strecken, auf denen die Züge rollen können, sind grün. Alles das findet sich auch bei Weber in seinem Stellwerk aus den Vierzigerjahren. Nur dass die Farben dort nicht auf Bildschirmen zu sehen sind, sondern auf diversen Metall- und Emailleschildern.

Und nur wenn Weber die Signale und Weichen richtig gestellt hat, lässt sich auch die komplette Fahrstraße einstellen - alles ist mechanisch abgesichert. Angehende Fahrdienstleiter müssen daher, bevor sie in einem computergestützten ESTW ausgebildet werden, ihre ersten beruflichen Schritte in einem alten, mechanischen Stellwerk lernen, sagt SOB-Betriebsleiter Christian Steinbacher. "Wenn ich das mechanische Stellwerk verstanden habe, dann verstehe ich die komplette Systematik der Zugsicherung."

Doppelte Kontrolle aus dem Weichenwärter-Häuschen

Noch gibt es diese alte Technik. Gerhard Webers Stellwerk in Tüßling zum Beispiel wurde vor dem Ersten Weltkrieg errichtet und zuletzt 1941 grundlegend umgebaut. Das Besondere daran: Unter anderem weil die Zugkräfte an den Hebeln nicht ausreichen würden, um die langen Wege vom Stellwerk bis zu den Weichen und Signalen zu überbrücken, gibt es am südlichen Ende des Bahnhofareals ein zweites Stellwerk. Dort verrichtet ein Weichenwärter seinen Dienst.

An diesem Montagmorgen ist das Peter Stockner. Er bedient auf Anweisung von Weber die Signale und Weichen in seinem Bereich - ebenfalls über Hebelbank und Drahtseile. Und er überwacht den kleinen Bahnübergang direkt neben seinem Weichenwärter-Häuschen. Immer wenn sich der nächste Zug ankündigt, muss Stockner an einer Kurbel drehen und die Schranken herunterlassen.

Wenn Industriewünsche alte Systeme modernisieren - und Jobs kosten

Über kurz oder lang allerdings wird die alte Technik verschwinden. Nördlich von Tüßling sind bereits Arbeiter dabei, die alten Schienenwege zu modernisieren. Geplant ist ohnehin, die Strecke München-Mühldorf-Freilassing durchgehend zweigleisig und elektrifiziert auszubauen, samt moderner Stellwerkstechnik. Vor allem die Industriebetriebe im bayerischen Chemiedreieck mit ihren Niederlassungen in Burghausen, Trostberg oder Töging fordern bereits seit Jahrzehnten einen Ausbau der für sie so wichtigen Gütertransportstrecke.

Im kommenden Jahr soll dann auch der Bahnhof Tüßling aus- und umgebaut werden. Das zumindest sind die Planungen der Deutschen Bahn. Dann wird Webers Stellwerk abgerissen, genauso wie Stockners Weichenwärterhäuschen. Die Drahtseile entlang der Strecke werden verschwinden, ebenso die Führungs- und Umlenkrollen. Und die alten Formsignale werden Arbeiter durch moderne Kombisignale ersetzen. Für Weichenwärter Stockner wird die Bahn dann einen neuen Einsatzort finden müssen.

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