Stellenabbau bei Nokia Siemens Networks:"Betriebsrat und IG Metall haben unsere Interessen verraten"

Der Kompromiss ist umstritten: 1600 Mitarbeiter müssen bei Nokia Siemens Networks in München gehen, dafür bleibt der Standort erhalten. Viele Mitarbeiter fühlen sich verraten - zumal die IG Metall einigen Mitgliedern höhere Abfindungen erkämpft hat als anderen.

Nina Bovensiepen, Björn Finke und Michael Tibudd

Es ist ein bitterer Satz, den Christine Rosenboom an diesem strahlend-schönen Münchner Frühlingstag ausspricht. "Der Arbeitgeber", beginnt der Satz, "handelt artgerecht, aber der Betriebsrat und die IG Metall haben unsere Interessen verraten."

NSN Mitarbeiter demonstrieren gegen Standortschließung in München, 2012

Vor der Siemens-Zentrale am Wittelsbacher Platz demonstrierten die Beschäftigten von Nokia Siemens Networks gegen den Stellenabbau.

(Foto: Stephan Rumpf)

Rosenboom hat 27 Jahre für Siemens gearbeitet. Fast ihr ganzes Berufsleben hat die Softwareentwicklerin bei dem Traditionskonzern verbracht, über den früher gerne gespottet wurde, er verströme mehr behördliche Versorgungsmentalität als die Schlagkraft eines Global Players. Als behäbiger Dampfer wurde Siemens bisweilen gescholten. Rosenboom weiß, dass vieles davon nur noch Klischee ist.

Trotzdem kann die 52-Jährige nicht fassen, was ihr in diesen Wochen widerfährt. Sie hat zuletzt beim Netzwerkausrüster Nokia Siemens Networks (NSN) gearbeitet. Den gibt es seit 2007, als Siemens einen Teil seines Telekommunikationsgeschäfts in das Gemeinschaftsunternehmen auslagerte. Die deutsch-finnische Firma, in der Nokia mit knapper Mehrheit den Ton angibt, hat sich nicht gut entwickelt. Daher verfügte das Management schon vor Monaten einen radikalen Umbau samt Stellenabbau.

Rosenboom erfuhr am 4. April, dass sie nicht mehr gebraucht wird. Per Mail. Um 10.54 Uhr platzte die elektronische Post in ihren Arbeitstag. Es gab vorher kein warnendes Gespräch mit Vorgesetzten. Zahlreiche Mitarbeiter, die nie damit gerechnet hätten, dass sie zu den Aussortierten zählen würden, traf die Mitteilung unvorbereitet. "Viele waren fix und fertig, geschockt", sagt Rosenboom.

In der Mail wurde sie aufgefordert, innerhalb weniger Tage zu entscheiden, ob sie bereit sei, zum 1. Mai in eine sogenannte Transfergesellschaft zu wechseln. Eine solche soll nicht mehr benötigte Beschäftigte weiter qualifizieren und in neue Jobs vermitteln. "Sollten Sie sich gegen den Wechsel in die Nokia Siemens Networks Transfergesellschaft mbH entscheiden, sind wir gezwungen, eine entsprechende Kündigung auszusprechen", stand da. "Es fühlt sich an, als ob man nach 27 Jahren mit einem Fußtritt verabschiedet wird", sagt Rosenboom.

So empfinden es viele, die in diesen Tagen NSN verlassen. In Mails an die Betriebsräte und in Internetforen machen sie ihrer Wut Luft. 1600 von 3600 Stellen fallen in München weg. Viele Betroffene empfinden es als zynisch, dass Manager und Arbeitnehmervertreter von einem gelungenen Kompromiss sprechen.

"Nokia Siemens Networks erhält Arbeitsplätze in München", verkündete NSN vor zwei Wochen per Pressemitteilung. "Die überwiegende Mehrheit der von der Restrukturierung betroffenen Mitarbeiter" hätten sich bereit erklärt, in die Transfergesellschaft zu wechseln, hieß es weiter.

Gewerkschaft kämpft zweigleisig

Wenn Werner Pohlmann solche Sätze liest, regt er sich auf. Auch er hat seine letzten Arbeitstage bei NSN hinter sich. Er heißt in Wahrheit anders, aber sein Name soll nicht in der Zeitung stehen. "Das hört sich an, als ob wir eine Wahl gehabt hätten. Aber es gab nur die Alternative: Transfergesellschaft oder Kündigung ohne Abfindung", sagt er. Pest oder Cholera. So sieht Pohlmann es.

Das Unternehmen betrachtet es naturgemäß anders. Siemens ist froh, dass der Standort München erhalten bleibt. Auch von NSN ist das inzwischen zu hören. Dabei wollte das Management den Standort zunächst komplett schließen - bis Siemens intervenierte.

Die IG Metall ist ebenfalls zufrieden: "Eine schon beschlossene Standortschließung wurde erfolgreich verhindert", pries die Gewerkschaft die Lösung. Der Preis sei zwar, dass 1600 Mitarbeiter gehen müssten. "Die für sie erkämpften Konditionen allerdings sind deutlich besser als das, was sie bei der ursprünglichen Schließung mit Kündigungen erwartet hätte."

Was die Mitteilung der Gewerkschaft nicht erwähnt, ist, dass sie bei den Konditionen zweigleisig gekämpft hat. Für eigene Mitglieder hat sie Sonderbedingungen erstritten, mit denen diese besser abschneiden als die übrige Belegschaft. So beträgt der Abfindungsbetrag pro Arbeitnehmer ein Jahresgehalt; wer in der Gewerkschaft ist, bekommt 10.000 Euro mehr. Auch die monatlichen Bezüge in der Transfergesellschaft sind höher.

"Die Sonderkonditionen gehen zu Lasten vom Rest", meint Rosenboom. NSN widerspricht. Auch ohne die Gewerkschaftsprivilegien hätte die Firma nicht mehr Jobs erhalten. "Wir haben bestimmte Stellen abgebaut, weil sie nicht mehr zu unserer Strategie passen", sagt eine Sprecherin. In München habe es viele Verwaltungsjobs gegeben und Arbeitsplätze aus dem Festnetzbereich, "die gehören nicht mehr zum Kerngeschäft".

Trotzdem hat die Taktik der IG Metall Unfrieden gesät. Noch mehr entrüstet die Aussortierten aber das Verhalten des Betriebsrates von NSN. Der bekam vom Management die Namenslisten der 1600 Mitarbeiter vorgelegt, die gehen sollen. Solche Listen überprüft ein Betriebsrat normalerweise darauf, ob sie sozial gerecht sind. Das heißt, er schaut, ob Kriterien wie Alter, Dauer der Betriebszugehörigkeit und Zahl der Kinder berücksichtigt sind und ob nicht diskriminiert wird.

Genau dies ist bei NSN nach Meinung vieler nicht passiert. "Hier war der Selbsterhaltungstrieb des Betriebsrates ausschlaggebend", sagt Rosenboom. Die Arbeitnehmervertreter hätten vor allem geprüft, ob Betriebsräte oder Ersatz-Betriebsräte darauf seien, diese gestrichen - und dann hätten sie die Namenslisten abgenickt.

Zwei Tage für 1600 Namen

Das ist für sie wie auch für Pohlmann der schlimmste Verrat. Schlimm, weil er von unerwarteter Seite kommt. Betriebsrat und Gewerkschaft hätten deutlich mehr Widerstand leisten müssen, finden viele Betroffene. "Hallo Horst", heißt es in einer Mail an den Münchner Betriebsratsvorsitzenden Horst Schön, "von wegen bei einem IGM Betriebsrat gibt es keine Namenslisten! Wir hatten erst angefangen zu kämpfen und schon gebt ihr auf . . .".

Per Mail macht auch ein Cartoon die Runde, der zeigt, wie Menschen aus dem Fenster springen; ein Manager sagt: "Das Schönste ist, der Betriebsrat hat diesem Sozialplan zugestimmt."

Schön weist die Vorwürfe zurück. Er könne jeden verstehen, der mit der Situation nicht glücklich sei. Wobei er viele Kollegen kenne, die nicht wüssten, wer besser dran sei: diejenigen, die in einer der vier neuen Firmen von NSN unterkommen, oder jene, die in der Transfergesellschaft anfangen. "Fakt ist: Wenn die wirtschaftliche Entwicklung negativ ist, dann steht die Einigung und die Standortgarantie auch in Frage", sagt er. So oder so, zum Jubeln sei ihm in der Sache nie zumute gewesen. "Uns war immer klar, dass wir hier an einem großen Abbauprogramm mitarbeiten müssen."

Dies geschah noch dazu unter enormem Zeitdruck. Gerade zwei Tage hatte der Betriebsrat, um die Listen zu prüfen. Für 1600 Namen, bei 3600 Beschäftigten insgesamt. Das ist kaum machbar in der Kürze der Zeit. Aber es ist bequem für das Unternehmen, das sich nun darauf beruft, dass die Arbeitnehmervertreter dem Vorgehen zugestimmt hätten. NSN beharrt zudem darauf, dass Kriterien der Sozialauswahl "durchaus eine Rolle gespielt" hätten.

Auch Schön sagt, dass er und seine Kollegen die Liste nach allen relevanten Kriterien geprüft und keinesfalls nur auf die eigenen Leute geschaut hätten. "Man muss aber auch sehen, dass wir einfach nicht die Zeit hatten, jedem Fall genau nachzugehen", räumt er ein. "Da kann man nur bei denen alles richtig machen, die man kennt." Einige Schwerbehinderte habe man noch von der Liste genommen.

Wie kann es denn sein, dass der Ernährer einer neunköpfigen Familie auf der Liste bleibt? Oder ein Kollege mit 35 Dienstjahren?", fragt dagegen Pohlmann. "Der Betriebsrat und die IG Metall haben uns verkauft, indem sie die Namensliste unterschrieben haben." Er würde wie Christine Rosenboom gerne eine Kündigungsschutzklage einreichen. Beide sind sicher, dass sie vor Gericht gewinnen könnten.

Allerdings wäre es ein mühsamer Weg, der mit der Zustimmung der Betriebsräte zur Namensliste noch komplizierter geworden sei. Denn in so einem Fall kehrt sich die Beweislast um, und der Kläger muss belegen, dass die zugrunde liegende Auswahl grob fehlerhaft ist. Das ist auch deshalb schwierig, weil die Betroffenen dafür Zugriff auf die Personaldaten der Belegschaft haben müssten.

Ein Prozess wegen einer Kündigungsschutzklage dauert mindestens eineinhalb Jahre", sagt Rosenboom. So, wie es der Firma gehe, glaube sie nicht, dass es NSN dann überhaupt noch gebe. Das ist der Grund, warum sie in die Transfergesellschaft wechselt. "Auch wenn es brutal ist, auf diese Weise nach 27 Jahren bei Siemens gehen zu müssen."

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