Statt Gymnasium:Unterschätzte Alternative

IHK und Lehrerverband werben für eine stärkere Realschule

Von Melanie Staudinger

Wenn Jürgen Böhm über Realschulen spricht, gerät er schnell ins Schwärmen: Sind es sie doch, die den Fachkräftebedarf am besten decken können. Die Schulen, an denen fast alle Schüler ihren mittleren Abschluss bestehen. Die Schulart, die die naturwissenschaftlichen und mathematischen Fächer genauso gestärkt hat wie den Sozialbereich und die Fremdsprachen. "Wir können also selbstbewusst sein", sagt Böhm, Vorsitzender des bayerischen Realschullehrerverbands (BRLV) und damit erster Chef-Lobbyist des so oft im Schatten stehenden Schultyps. Die Politik diskutiert ständig über das Gymnasium, die Wirtschaft beklagt die fehlende Ausbildungsreife so mancher Mittelschüler. Dass dazwischen noch eine Schulart steckt, wird allzu oft übersehen. Das will Böhm ändern und deshalb hat er am Mittwoch auch zu einer Pressekonferenz mit dem Thema "Der Mensch beginnt nicht beim Abitur" geladen.

Flankiert von Hubert Schöffmann, der die bayerische Industrie- und Handelskammer (IHK) in Bildungsfragen vertritt, und Johannes Becker, der im BRLV für Fachober- und Berufsoberschulen zuständig ist, wirbt Böhm für die "bayerische Realschule". Vorsichtshalber, denn über allem schwebt derzeit das Damoklesschwert des neunjährigen Gymnasiums. Das beginnt zwar offiziell erst im Herbst 2018, doch kommen bereits alle Kinder, die in diesem September aufs Gymnasium wechseln, in den Genuss der von der Staatsregierung initiierten Schulzeitverlängerung. Viele prognostizierten schon den Untergang der Realschule. Davon war bei der Anmeldung fürs nächste Schuljahr nichts zu spüren, und so solle es auch bleiben, sagt Böhm.

Tatsächlich hat die Realschule im Vergleich zum Gymnasium Vorteile. Sie ist stärker praktisch orientiert, sie sichert den Nachwuchs für Betriebe und stellt einen großen Teil der dringend benötigten Fachkräfte, Schüler mit schlechteren Deutsch-Kenntnissen tun sich hier meist leichter. In München versuchen es viele Familien lieber erst einmal auf dem Gymnasium, weit mehr als 50 Prozent der Viertklässler zieht es jedes Jahr hier hin. Nicht mal jeder Fünfte geht auf eine der 23 öffentlichen Realschulen, sogar die Mittelschulen verzeichnen einen stärkeren Zulauf (22 Prozent).

In späteren Jahrgängen aber steigt die Beliebtheit. Um die drei Prozent der Mittelschüler schaffen jedes Jahr den Sprung auf die Realschule, vier Prozent der Gymnasiasten kommen ebenfalls dazu, wie der Bildungsbericht der Stadt München vorrechnet. Beim Blick auf die Abschlusszeugnisse dreht sich das Bild quasi um: Mehr als die Hälfte aller Schüler erwerben ihre Hochschulzugangsberechtigungen nicht mehr am Gymnasium, sondern auf der Fachober- oder Berufsoberschule. "Abgerechnet wird im Leben nicht mit zehn oder 14, sondern viel später", sagt Böhm.

Huber Schöffmann von der IHK hebt die Berufschancen für Realschüler hervor. Bayernweit fehlten schon jetzt 227 000 Fachkräfte, 2030 könnte ihre Anzahl schon bei 400 000 liegen. Vor allem Meister, Techniker und Fachwirte seien gesucht, also beruflich Qualifizierte, keine Akademiker. "An Gymnasien fehlt uns die Berufsorientierung", sagt der Vertreter von Industrie und Handel. Die Unternehmen setzten längst auf den mittleren Schulabschluss. "Wir müssen das Bewusstsein dafür schärfen", sagt er. Mittelschulreform abgeschlossen, Gymnasialreform auf den Weg gebracht - nun seien die Realschulen an der Reihe, sagt Böhm. Und während Böhm und seine Mitstreiter im Hotel Eden Wolff für Realschule und berufliche Bildung werben, startet auch die Landtags-SPD eine Initiative. Sie fordert mehr Geld für Personal an Mittel- und Realschulen. "Die Bildungsdebatte hat sich in den letzten Jahren zu oft am akademischen Weg orientiert", sagt die stellvertretende Fraktionsvorsitzende Margit Wild. Dabei gebe es doch hervorragende Chancen in den Ausbildungsberufen. Das müssen jetzt nur noch die Eltern auch so sehen.

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