Zum Muttertag:Die Berufsmutter von Haus 13

Anke Hertzsch kümmert sich seit zehn Jahren im SOS-Kinderdorf in Dießen um sechs Kinder. Es sind nicht ihre eigenen - und doch erfahren sie bei ihr mehr Nähe und Geborgenheit als in ihren ursprünglichen Elternhäusern

Von Armin Greune, Dießen

Von Kleinkinderhand gemalte Bilder, aus Holzperlen gefertigte Tiermotive, Getöpfertes und Gebasteltes: Der Karton mit den Muttertagsgeschenken, die nicht mehr an Wänden oder in Regalen von Haus 13 Platz gefunden haben, ist schon ziemlich voll. Am Sonntag kommt sicher wieder einiges dazu: Schließlich hat Anke Hertzsch sechs Kinder im Alter von fünf bis 15 Jahren. Der Beruf Mutter ist ihr nicht wie den meisten anderen in die Wiege gelegt worden: Als sie sich dann doch dazu entschloss, war sie bereits 42 und hatte fast 20 Jahre lang als Erzieherin gearbeitet. Sie leitete Kindergärten in Oberfranken und Unterhaching, bevor sie sich 2007 erneut in Dießen um eine Stelle als SOS-Kinderdorfmutter bewarb.

"Beim ersten Mal mit Anfang 30 war es noch nicht die richtige Entscheidung für mich", sagt Hertzsch heute. Zehn Jahre später fand sie sich bereit, ihrem Leben eine Wendung zu geben und noch mal etwas ganz Neues anzupacken: "Ich habe eine engere Bindung und dauerhafte Beziehung zu Kindern gesucht." Heute ist sie Mutter für, aber nicht von drei Geschwisterpaaren und würde ihre Berufswahl wieder genauso treffen, obwohl sie dafür die eigenen Bedürfnisse weit hinten anstellen muss.

Der Beginn im Kinderdorf war für sie eine ziemliche Herausforderung: Ihre sechsmonatige Probezeit brach damit an, dass sie den damals fünfjährigen Dominic und seine kleine Schwester Nancy aufnahm, die gerade mal vier Monate alt war. Zum Glück hatte Hertzsch in ihrer Jugend Erfahrungen mit Babys gesammelt, weil sie mehr als zwei Jahre lang in Alaska als Nanny einer deutsch-amerikanischen Familie gearbeitet hatte. Und doch ist die Situation in Dießen ganz anders, denn die Kinder, die meist vom Jugendamt ans SOS-Kinderdorf überwiesen werden, "tragen alle ihren unsichtbaren Rucksack", wie es Hertzsch ausdrückt.

Dießen: SOS Kinderdorf Kindedorfmutter Anke Hertsch

Sechs Kinder zwischen fünf und 15 Jahren samt Haustieren haben im Haus 13 des SOS-Kinderdorfs ein neues Zuhause gefunden. Anke Hertzsch nimmt in der Patchwork-Familie die Rolle der Mutter ein.

(Foto: Nila Thiel)

Oft äußern sich die Belastungen, denen die Kinder in ihren leiblichen Familien ausgesetzt waren, in unvermittelten Wutanfällen oder hysterischen Trennungsängsten. "Manche haben auch einen schier unstillbaren Hunger mitgebracht", erzählt Hertzsch, "sie können nicht aufhören zu essen, bis alle Schüsseln leer sind". Bei den leiblichen Eltern daheim habe das Geld für Nahrungsmittel nicht gereicht, weil fast alles für anderes, etwa Suchtmittel ausgegeben worden sei. Diese Kinder lernten erst langsam, dass im Haus 13 immer alle satt werden. Nicht selten leiden die Jungs und Mädchen auch an Hunger nach Nähe und Zärtlichkeit: Die abendliche Schmuserunde mit den Kleinen gehört ebenso zu den täglichen Ritualen für Hertzschs Schützlinge wie das gemeinschaftliche Abendessen im Familienkreis oder das Vorlesen.

Zwei Monate nach den ersten beiden Kindern wuchs Hertzschs Familie um zwei Jungs. Beide haben das Kinderdorf längst wieder verlassen: Einer zog nach drei Jahren zum leiblichen Vater, der andere kam in einer Jugendgruppe unter. Ansonsten hat sich die Gemeinschaft in Haus 13 als recht stabil erwiesen, zuletzt kamen vor vier Jahren noch einmal zwei Mädchen dazu. Nancy ist noch immer da, sie verabschiedet sich gerade zur Trommelgruppe. Ihr Bruder ist beim Sport: "Hoheitsgebiet Dominic", steht auf der Tür eines der vier Kinderzimmer. Demnächst will der 15-Jährige in eine Jungs-WG umziehen. Er scheidet nicht im pubertären Zorn und will den Kontakt zu seiner Zweitfamilie aufrecht erhalten - "aber für ihn erweist sich jetzt dieses Konstrukt einer Familie als zu eng", sagt Hertzsch. Zudem sehne sich Dominic als einziger Mann im Haushalt nach mehr Gesellschaft von Geschlechtsgenossen, meint sie.

Zumindest für einige Zeit wird dann Haus 13 zur reinen Weiberwirtschaft: Der Kinderdorf-Mutter und den fünf verbleibenden Mädchen stehen tagsüber noch zwei Erzieherinnen zur Seite, außerdem sorgt noch eine Haushaltshilfe werktags vier Stunden lang für Ordnung. Weil auch die Kinder nach einem wechselnden Putzplan mithelfen, wirkt das Familiendomizil sehr sauber und aufgeräumt, obwohl noch je zwei Wellensittiche und Kaninchen das ihre zur alltäglichen Erosion der häuslichen Ordnung beitragen.

Das erste deutsche Kinderdorf

1956 öffnete in Dießen das erste deutsche Kinderdorf seine Tore. Der Österreicher Hermann Gmeiner hatte die Einrichtung 1949 gegründet, um verwaisten und verlassenen Kindern der Nachkriegszeit ein neues Zuhause zu geben. Der Idee lag das Prinzip zu Grunde, dass jedes Kind eine Mutter braucht und am natürlichsten mit Geschwistern in einem eigenen Haus innerhalb einer Dorfgemeinschaft aufwächst. Zu Beginn lebten die Kinderdorf-Mütter mit bis zu zehn Schützlingen unter einem Dach. Inzwischen sind sechs Kinder die Obergrenze und fünf der derzeit elf Haushalte in Dießen werden von Paaren geleitet. Allerdings bewerben sich immer noch weniger Männer, als für die Entwicklung der Kinder wünschenswert wäre. Auch die Gründe, warum sie im Kinderdorf aufgenommen werden, haben sich gewandelt: Früher gaben viele uneheliche Mütter ihre Kinder ab, um der gesellschaftlichen Ächtung zu entgehen. Noch bis in die 1970er Jahre hinein galt es zumindest am Land als Schande, alleinerziehend zu sein. Heute ist das Wohl der Kinder entscheidend: Das Jugendamt prüft, ob eine langfristige Unterbringung außerhalb des Elternhauses erforderlich ist. Wenn etwa die Eltern nicht in der Lage sind, sich ausreichend um ihre Kinder zu kümmern, ist die Aufnahme in ein SOS-Kinderdorf eine Option. arm

Selbst wenn sie von einem Teil der Hausarbeit entlastet ist, bleibt für Hertzsch genug zu tun. Sie ist ja nicht nur Mutter, sondern auch Teamleiterin, die Mitarbeitergespräche führt, im Kinderdorf Termine wahrnehmen muss und Verwaltungsaufgaben zu erledigen hat. Dazu kommen Hilfe- und Erziehungspläne, Verhandlungen mit dem Jugendamt, Gespräche mit Therapeuten und Eltern sowie die Elternabende an vier Schulen und einem Kindergarten.

Vor allem aber steht sie jeden Tag 24 Stunden für die Anliegen der Kinder zur Verfügung. Hertzschs Alltag beginnt um 5.30 Uhr früh und endet nach 22 Uhr: Wenn sie sich dann in ihr Schlafzimmer zurückzieht "bin ich oft platt", räumt sie ein. Nach jeweils sechs Tagen stehen ihr eigentlich 24 Stunden zu, die sie von der Familie getrennt in ihrer kleinen Zweitwohnung in Landsberg verbringen könnte. Sie sammelt diese Freizeiten aber lieber an, um dann gleich einige Tage Auszeit zu nehmen. Einmal jährlich gönnt sie sich maximal zwei Wochen Urlaub am Stück - länger geht nicht, das lassen die Trennungsängste der Kinder nicht zu. In den vergangenen Jahren ist Hertzsch dann stets mit einer Freundin verreist, die in einem Nachbarhaus als Kinderdorfmutter lebt und arbeitet: "Nach dem ersten Tag sind dann "unsere" Familien erst mal kein Thema mehr".

Keinen Urlaub, aber doch Abwechslung bieten die Ferien, die sie mit den Kindern verbringt. Nach Aufenthalten im Bayrischen Wald und Camping am Gardasee soll es heuer mit einer Kollegin und dem Kleinbus für zwei Wochen nach Dänemark gehen. Auch gemeinsame Wochenendausflüge unternimmt die Patchwork-Familie. So hat Hertzsch schon ihren Bruder in Landshut mit Sack und Pack besucht. Zu Silvester wiederum war ihre leibliche Familie in Dießen zu Gast: Mutter, zwei Brüder mit Schwägerinnen und fünf Neffen. Mit den sechs Dauerbewohnern wurde Haus 13 zu "einem einzigen Matratzenlager, das war ein Riesenspaß".

Natürlich ist der Umgang mit traumatisierten Kindern nicht immer so unkompliziert. Häufig haben Hertzsch und die amtlichen Betreuer nur beschränkt Einblick in die Vorgeschichte ihrer Schützlinge. Und immer braucht es viel Zeit, bis nach dem Trennungsschmerz und der Entwurzelung das Vertrauen auf das neue Familienumfeld gewachsen ist. Probleme im Umgang mit den Kindern tauchten regelmäßig auf, wenn sie zuvor Kontakt mit ihren leiblichen Eltern hatten: "Das wirft viele aus der Spur", sagt Hertzsch. Auch wenn vielfach die Väter nicht präsent sind, gebe es kaum noch Waisen im SOS-Kinderdorf.

So manche "echte" Mutter wünscht sich manchmal im Scherz, ihre Kinder umtauschen zu können. Anders als in blutsverwandten Familien hätte Hertzsch die Möglichkeit zu kündigen - doch das ist für sie schon lange keine Option mehr. Ein Schlüsselerlebnis sei es für sie gewesen, als ein Kleinkind sie erstmals "Mami" nannte: "Wenn es einen so anspricht, wird deutlich, dass eine Beziehung entstanden ist".

Ihren ursprünglichen Beruf hat sie inzwischen aus einem anderen Blickwinkel kennen gelernt: "Ich hab jetzt zehn Jahre lang ununterbrochen Kindergartenkinder gehabt". Als Leiterin der Einrichtung fehlte ihr meist das Verständnis, wenn Eltern Termine einfach vergessen hatten oder zu spät kamen. "Jetzt weiß ich, dass man nicht pünktlich sein kann, wenn einen das Geschwister-Baby im letzten Moment vor dem Aufbruch vollspuckt."

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