Volkstrauertag:"Für Mutter war es furchtbar"

Leonhard Poelt hat einen Bruder im Zweiten Weltkrieg verloren. Nun erzählt der Pöckinger, wie seine Eltern den Tod ihres Kindes verkraftet haben und wie sehr ihn die Erinnerung an diese Familientragödie noch heute prägt.

Von Manfred Hummel

Fröhlich und entspannt lächeln die Absolventen der Realschule München Pasing in die Kamera. 20 junge Männer im Alter von 16, 17 Jahren. Die Schultaschen haben sie lässig unter den Arm geklemmt. Die Prüfungen sind geschafft, ein neuer Lebensabschnitt beginnt. Die Köpfe sind voller Ideen über den weiteren Werdegang. Es ist das immer gleiche Bild am Ende der Schulzeit. Es könnte aus unseren Tagen stammen, wäre die Schwarzweiß-Aufnahme nicht vergilbt und hätte einen Knick. Der militärisch knappe Haarschnitt und die kurzen Hosen deuten auf eine andere Zeit hin: Man schreibt das Jahr 1939. Die meisten der jungen Burschen, die da so unternehmungslustig dreinblicken, werden bald tot sein. Sie sterben in einem Krieg, in den ein verbrecherisches Regime die Welt stürzen wird. Zu den Absolventen gehört auch Clemens Poelt aus Pöcking, geboren am 22. Juli 1922. Weil er relativ klein ist, steht er in der ersten Reihe.

"Pengas", so sein Spitzname, ist ein begeisterter Sportler. Er mag das Geräteturnen und fährt gut Ski. Deshalb geht er zu den Gebirgsjägern. Pengas sieht gut aus, die Mädels lieben ihn. Der Spross einer Gastwirtsfamilie will Architektur oder Maschinenbau studieren. An der Luitpold-Oberrealschule bekommt er noch das Notabitur. Dann beginnt am 1. September 1939 mit Hitlers Überfall auf Polen der Zweite Weltkrieg. Clemens wird eingezogen und kommt gleich nach Russland.

"Meine Lieben!", meldet er sich mit Datum vom 10. Mai 1942 aus dem Feld. Da ist er erst wenige Wochen an der Front. Er müsse immer an daheim denken, beginnt er seinen dreiseitigen Brief. Die Frage "Wie geht's Euch?" relativiert er gleich selbst. Die Antwort würde ziemlich lange dauern. So malt er sich den Tagesablauf aus, wie er ihn kennt, um den Lieben zumindest in Gedanken nahe zu sein. Es ist ein Sonntag. "Mama ist schon in aller Früh auf den Füßen, die Sorgen um das Essen mit sich tragend, Papa läuft ebenfalls schon umher und schaut, dass er die Sachen alle herbringt, die Mama braucht. Er richtet das Fleisch. Ist es noch so viel wie vor einem Jahr? . . . Draußen werden die Bäume schon alle heraußen sein, die Wiesen schön saftig grün und die Sonne scheint warm, sodass man schon in der Kurzen herumlaufen könnte. Bis der Brief heim kommt, geht Ihr vielleicht schon zum Baden. Ja, so wird es sein - oder stimmt's nicht?"

Pöcking Leonhart Poelt

Leonhard Poelt blättert in der Familienchronik. Im Dezember wird der ehemalige Pöckinger Gastwirt 88 Jahre alt.

(Foto: Nila Thiel)

Dann berichtet er, dass es bei ihm "auch nicht gar so abscheulich" ist. "Jetzt werden die Wiesen schon allmählich grün, auch manche Bäume haben schon Triebe, aber man kann halt nicht in der Kurzen herumlaufen, oder mit dem Radl spazieren fahren." Am Nachmittag spiele er den großen Sportler. "Da staunt Ihr was? Ja, wir treiben Sport da heraußen, wenn wir auch dicht an der Front sind und manchmal unsanfte Grüße von drüben herüberkommen, so machen wir doch unsere Handballwettkämpfe." Der Brief endet mit recht vielen Grüßen an alle, die er kennt.

"Euer Jaga Pengas"

15 Tage später ist Pengas tot. Gefallen am 25. Mai 1942 während der Schlacht um Charkow in der Ukraine. 19 Jahre und zehn Monate war er alt. Kameraden begraben ihn neben zwei weiteren gefallenen Soldaten, stecken einfache Holzkreuze in die Erde, machen ein Foto. Es bleibt die einzige Erinnerung an das Grab.

Durch Zufall erfährt ein gebürtiger Pöckinger am Ort des Geschehens von dem tragischen Ereignis. Es kommt, wie es kommen musste. Der ganze Ort weiß Bescheid, nur die eigene Familie hat keine Ahnung, bis die offizielle Todesnachricht mit der Post eintrifft. "Wir müssen Ihnen mitteilen, dass Ihr Sohn zum Schutz des Vaterlandes sein Leben gelassen hat", heißt es lapidar. Noch einer erfährt von Clemens' Tod. Sein Freund Jakob "Jackl" Sedlmeier aus Possenhofen, auch ein Gebirgsjäger. Jackl ist im Kaukasus eingesetzt und kommt in eine andere Einheit, wo er eine neue Ausrüstung erhält. Darunter ist ein gebrauchtes Kochgeschirr. Eingeritzt sind die Initialen seines Freundes Clemens Poelt, C.P.

In einem Feldpostbrief vom 7. Juli 1942 schildert Jackl, wie Pengas den Tod fand. Der Koch seiner Kompanie ist auf der Suche nach einer Kuh, die er für die Truppe schlachten will. Außerhalb einer Ortschaft steht ein Stall. Dort will er nachsehen, ob etwas Brauchbares zu finden ist. Da wird auf ihn geschossen. "Es waren 20 Russen darin." Der Koch erreicht unverletzt seine Kompanie und meldet den Vorfall. Daraufhin muss Clemens' Zug "den Stall säubern". Die russischen Soldaten haben sich inzwischen in einen kleinen Wald abgesetzt. Als sich die Deutschen dem Wäldchen nähern, "traf Clemens und seinen Kameraden Schütz die feindliche Kugel". Jackl selbst fällt am 28. September 1944 mit 21 Jahren. Sein 18-jähriger Bruder Josef wird am 28. November 1944 getötet. Damit haben die Sedlmeiers, die in Pöcking eine kleine Landwirtschaft betreiben, zwei von drei Kindern verloren.

Pöcking verstorbener Bruder Klemens Poelt

Poelts Bruder Clemens in der Uniform des Mittenwalder Gebirgsjäger-Regiments 98.

(Foto: Nila Thiel)

Der das alles berichtet, ist Clemens' sieben Jahre jüngerer Bruder Leonhard Poelt. Der Gastwirt im Ruhestand vom Gasthof zur Post in Pöcking feiert im Dezember seinen 88. Geburtstag. Die Zeugnisse der tragischen Ereignisse hat er akkurat in der Familienchronik festgehalten und handschriftlich dazu notiert: "Der Heldengottesdienst fand am 23. Juni 1942 in der noch von Fronleichnam geschmückten Ulrichskirche statt. Anschließend die staatliche Trauerfeier am Kriegerdenkmal. Hier war inzwischen sein Gedenkkreuz eines unter vielen geworden . . ." Gleichwohl stellte man Krieg und Regime nicht infrage. Nicht nur, weil es gefährlich gewesen wäre, den Mund aufzumachen. "Man hatte damals so eine Art Heldenbewusstsein", sagt Leonhard Poelt. "Helden" hätten die Heimat verteidigt und seien aus "Vaterlandsliebe" in den Tod gegangen. "Den Herren oben war es wurscht, wie viele draufgehen. Sie haben ein Heldenepos inszeniert, damit das Volk die Klappe hält." Heute sei das anders. Damals habe es keine Opposition gegeben.

Die Verklärung des Massensterbens als Heldentod manifestierte sich auch in den Kriegerdenkmälern, die überwiegend nach dem Ersten Weltkrieg entstanden waren. Da dankt etwa eine Gemeinde ihren gefallenen "Helden". In Pöcking hatten sie 1983 den Mut, das alte Kriegerdenkmal durch ein eindrucksvolles neues Mahnmal zu ersetzen. Wie von einer Explosion zerfetzte Metalltrümmer formen ein Kreuz, das zwischen zwei Stelen befestigt ist. Auf ihnen stehen die Namen der hundert Gefallenen beider Weltkriege. Geschaffen hat es der Bildhauer Helmut Ammann (1907 - 2001), der in Pöcking lebte. Bei den Veteranen löste das Mahnmal einen Sturm der Empörung aus, den man auch nach mehr als 30 Jahren noch spürt. Auf den Stelen steht diplomatisch: "Den Gefallenen zur Ehre - Den Lebenden zur Mahnung."

Wie die Eltern reagiert haben, als sie vom Tod ihres ältesten Sohnes erfuhren? Leonhard Poelt, damals zwölf, vermutet, dass der Vater als Patriot seine Trauer nur im Bewusstsein ertragen konnte, seinen Sohn für das Vaterland "geopfert", als "Helden" hingegeben zu haben. In der Zeitung vom 29. Juni 1942 steht: "Eine tiefe Herzenswunde hat der Heldentod in der weitverzweigten Familie Poelt und darüber hinaus gerissen. Mit dankerfüllten Herzen stehen wir im Geiste vor dem Kriegergrab unseres lieben Clemens. Wir werden uns bewusst, dass er sein Bestes und Letztes, sein junges, sprossendes Leben gab für Deutschland. Eltern und Geschwister haben ein schweres Opfer gebracht, das sie für uns alle tragen. Der auf dem Felde der Ehre gebliebene Clemens war der berechtigte Stolz der Familie. Ehre seinem Andenken."

Pöcking Kriegerdenkmal

Das Mahnmal schuf der Pöckinger Bildhauer Helmut Ammann. 1983 wurde es zwischen Pius-Kirche und Friedhof aufgestellt.

(Foto: Nila Thiel)

Wie ging die Mutter, Maria Poelt, mit der Tragödie um? "Für die Mutter war es furchtbar. Es ist schlimm, wenn man den Tod eines Kindes miterleben muss", erinnert sich Leonhard Poelt. Clemens war ihr erster Sohn, der Stammhalter, ein lebenslustiger Mensch. Es blieben ihr Josef, Leonhard und die Tochter Marianne. Josef wurde ebenfalls eingezogen und diente bei der Artillerie, kam aber im Sommer 1945 gesund heim. Der damals 15 Jahre alte Leonhard wird am 21. April 1945 noch gemustert und für wehrtauglich erklärt. 14 Tage vor der Kapitulation. Den Wehrpass besitzt er heute noch. Ein Einsatz bleibt ihm erspart.

Später kümmert er sich um die Heimatgeschichte. Er ordnet das Pfarrarchiv, schreibt die Matrikel vom 16. Jahrhundert bis hinein in die Dreißiger Jahre ab. Sein Erinnerungsvermögen stellt einen Glücksfall dar. Kaum einer kennt noch die alten Pöckinger Familien so wie Leonhard Poelt.

Wenn die Angehörigen nicht mehr leben, geraten die Namen der Gefallenen in Vergessenheit. Hätte während des Krieges nicht der katholische Pfarrer die Namen der Kriegstoten festgehalten, sie wären heute überhaupt nicht mehr bekannt. Wenn der persönliche Bezug verloren geht, schwindet auch die Betroffenheit, ist das Gedenken am Volkstrauertag nur noch allgemein und pauschal möglich. "Keiner denkt mehr an die Menschen, die gefallen sind", so Leonhard Poelt. Landauf, landab erstarrt der Ablauf zum Ritual: Gottesdienst mit den Fahnenabordnungen der Vereine, Marsch zum Mahnmal, Einweisung durch die Feuerwehr, rechts und links neben dem Mahnmal jeweils ein Bundeswehrsoldat "in voller Wichs".

"Der weitere Ablauf findet wie gewohnt statt", steht heuer in der Einladung der Gemeinde zum Volkstrauertag: Choral der Blaskapelle, Totengebete der Pfarrer beider Konfessionen, Kranzniederlegung seitens der Gemeinde, des VdK-Ortsvereins, der Veteranen und Reservisten-Kameradschaft sowie der Bundeswehr unter Trommelwirbel. Die Blaskapelle spielt das Soldatenlied "Ich hatt' einen Kameraden". Dazu krachen drei Böllerschüsse. Nach der Feier marschiert man gemeinsam durch den Ort zum Parkplatz des Gasthofs zur Post, wo sich der Zug auflöst. Anschließend lädt Bürgermeister Rainer Schnitzler (PWG) die Blaskapelle, die Fahnenabordnungen und die Feuerwehr zur Brotzeit ein.

Leonhard Poelt geht jedes Jahr zur Trauerfeier. Er denkt dabei an seinen Bruder Clemens und an all die anderen auf dem Mahnmal, die er als junge Burschen kannte.

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