Tutzing:Frauen mit Nadeltrieb

Lesezeit: 3 min

Veronika Pischetsrieder betreibt in Tutzing ein Tattoo-Studio. Ihre Mutter Marina hat das Geschäft vor 23 Jahren gegründet. Sie gehörte zu den wenigen Frauen in dieser Branche.

Von Manuela Warkocz, Tutzing

Ein Installateur übergibt seinen Handwerksbetrieb an den Sohn. Nichts Besonderes. Aber dass in Tutzing das Tattoo-Studio "Nadeltrieb" nach 23 Jahren von der Mutter auf die Tochter übergeht, ist schon ziemlich ungewöhnlich. Zum einen, weil Tätowieren vor zwei Jahrzehnten noch reichlich exotisch war auf dem Land und zudem eine reine Männerdomäne. Gründerin Marina Pischetsrieder musste sich damals in Selbstversuchen und auf Schweinehaut das Tätowieren selbst beibringen. Zum anderen, weil Tochter Veronika von klein auf geschworen hat, eines Tages das Tattoo-Studio zu übernehmen. Tätowieren als Berufsziel also. Heute lässt "die Vroni", wie sie in der Szene heißt, bei Tattoo-Wettbewerben die männliche Konkurrenz blass aussehen. Bei der Tattoo-Convention in Rosenheim nadelte sie 2014 einem Kunden einen Holzfällertotenkopf samt Trachtenhut, Eichenlaub und Edelweiß zwei Tage vor Publikum auf die Brust. Erster Preis für dieses Bavarian-Style-Tattoo.

Woher die 24-Jährige ihre Leidenschaft für die Nadelkunst hat? "Sie war ja in meiner Kugel dabei, als ich mir meinen Traum mit dem Studio erfüllt hab", sagt Marina Pischetsrieder und lacht. Mutter und Tochter gleichen sich im Look, bevorzugen Schwarz von Kopf bis Fuß, empfangen die Besucherin mit Hardrock im pittoresken Ambiente: herabhängende Drachen, gold gerahmten Spiegel, Tattoofotos, Schreibtischrollstühle. Im lockeren Du plaudert die Tätowier-Mama über die Anfänge.

Als sie mit der Tochter, ihrem dritten Kind, schwanger ist, gibt sie ihren Job als Stewardess nach 13 Jahren auf. Meldet, unterstützt von ihrem Mann, ein Kleingewerbe an. Stellt in einen Anbau ihres Elternhauses in der Bräuhausstraße, in dem die Familie früher eine Wäscherei betrieben hat, eine Liege. Dazu ihre Erstausstattung, die sie sich aus den USA vom amerikanischen Tattoo-Papst Huck Spaulding mitgebracht hat: Trafo, Nadeln, Farben. Hat seine aufmunternden Worte im Ohr. Sie lernt mit einem Buch von Spaulding, wie man sehr spitze Nadeln lötet, die den Heilungsprozess fördern. Probiert auf Schweinehaut vom Metzger die Technik, Löcher zu stechen, in die die Farbe fließt. Schulungen gibt es Anfang der Neunzigerjahre noch nicht, auch keine Kunsthaut. In New York hat sie sich ihr erstes eigenes Tattoo stechen lassen. "Ich musste ja wissen, wie weh das tut." Und? Wie ist es? "20 Minuten Zähne zambeißen." Dann saß der kleine Drache am Po. Drachen wurden zum Maskottchen für ihr Studio. Eine Freundin bietet sich an für das erste Tattoo. "Ein Einhorn - wir haben beide gezittert." Es wird gut. Marina entwickelt Motive aus Märchen- und Fantasybüchern, von Plattencovern. Entwirft nach Kundenwünschen Skizzen auf Papier, im Vorzeitalter von Computer und Drucker. "Eigentlich wollt' ich das Ganze ja nur hobbymäßig, neben Haushalt und drei Kindern", erinnert sich die Studio-Gründerin. Aber es spricht sich schnell herum, dass in Tutzing eine Frau "perfekt und sauber arbeitet. Das war mir immer wichtig", wie sie betont. Hygiene, Einverständniserklärung und Grenzen, was sie nicht macht: Hände, Gesicht, Intimbereich. Ohne je Werbung zu machen, kommen Männer und Frauen aus dem ganzen Oberland, sogar aus München.

Beschäftigen andere Frauen ihr Kleinkind während der Arbeit unterm Schreibtisch, so wuselt Marinas Jüngste unter der Tattoo-Liege herum. "In so Freundschaftsbücher haben andere Mädels Tierpflegerin geschrieben, bei mir stand Tätowieren als Berufswunsch drin", sagt Vroni Pischetsrieder. Ihre ersten Entwürfe sind bis heute auf dem Tisch im Studio verewigt. Nach ihrem Realschulabschluss wollte sie trotzdem erst noch was Richtiges lernen. Beginnt eine Friseurlehre. Bricht sie aber nach eineinhalb Jahren ab. "Ich wollte einfach das machen, was die Mama macht."

Die nimmt sie streng in die Schule. Schenkt ihr mit 15 einen Bausatz für eine Tattoo-Maschine zu Weihnachten. Vroni soll ihr Werkzeug von der Pike auf beherrschen. Erst mit 18 darf sie sich ihr erstes eigenes Tattoo stechen lassen: "Liebe ist für alle da" - ein Ramstein-Zitat kommt auf den linken Arm. Ihr erstes "Opfer" muss sie nicht lang suchen. "Die Freunde haben sich richtig gestritten, wer mein erstes Tattoo kriegt", sagt sie. Wally, eine Stammkundin, geht mit einer Libelle am Bein nach Haus. "Die Mama hat gecoacht." Vroni entwickelt ihren eigenen Stil, "alte Schule, realistische fließende Bilder, fast ohne Linien". Sie richtet ihren eigenen Raum im Vintage-Stil ein, Nostalgie-Radio, Ledercouch. Seit Jahresbeginn ist Veronika Pischetsrieder offiziell die Chefin, ihre Mama Angestellte im "Nadeltrieb". Drei Nachmittage die Woche haben die beiden geöffnet. Und können, so versichern sie, vom Geschäft mit Adlern, Blumen oder Schriftzügen auf nackter Haut gut leben.

© SZ vom 08.03.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: