Tutzing:Aufregung um das Möwenkind

Tutzing Pension Möwe, Familie aus Simbach

Manchmal läuft alles anders als geplant: Die Geburt ihres Sohnes war für Andrea König (links) ein Abenteuer. Hebamme Christin Graba half ihr.

(Foto: Treybal)

In der gleichnamigen Pension in Tutzing kommt ein neuer Erdenbürger zur Welt. Es ist dort die erste Hausgeburt. Seine Mutter hat zuvor eine aufregende Flucht aus dem Hochwassergebiet in Simbach hinter sich

Von Christiane Bracht, Tutzing

Ganz entspannt, weit ab von Stress und Hektik wollte sie ihr Jüngstes zur Welt bringen - am liebsten in vertrauter Umgebung. Deshalb hatte sich Andrea König eine Hausgeburt gewünscht. Alles war bereits geplant. Anfang Juni wollte ihre Hebamme, Christin Graba aus Starnberg, sich in Simbach einquartieren, um bei der Geburt Hilfe leisten zu können. Doch dann kam alles anders: Kurz vor dem errechneten Entbindungstermin begann es zu regnen. Tag und Nacht schüttete es. Der Bach nahe Königs Hof schwoll plötzlich an, wurde ein tosender Fluss, so breit wie die Isar und riss alles mit sich, was er kriegen konnte. König hatte es noch gar nicht realisiert. Als der Kindergarten anrief und darum bat, die Kleinen abzuholen, solange es noch geht. Die Hochschwangere machte sich sofort auf den Weg. Doch weit kam sie nicht. Der wilde Strom hatte einen großen Krater in die Straße, die zum Ort hinunterführt, gerissen. König musste wieder umkehren.

"Ich war plötzlich völlig isoliert - allein im Wald", erinnert sie sich. Ein mulmiges Gefühl machte sich in ihr breit. Keiner konnte kommen. Sie war ganz auf sich allein gestellt, falls die Wehen beginnen würden. Aber die 38-Jährige beunruhigte viel mehr: Was war mit ihren anderen Kindern? Drei besuchten den Kindergarten, die ältere Tochter war am Morgen in die Schule gegangen. König konnte niemanden erreichen. Die Telefonleitungen waren tot, die Handyverbindungen total überlastet - ein Durchkommen aussichtslos. Dann stand sie plötzlich im Dunkeln. Der Strom war weg und damit hatte sie auch kein Wasser mehr. Denn das wird mit Strom aus dem hofeigenen Brunnen in die Leitungen gepumpt. Sie blieb die Nacht über allein, war sehr in Sorge um die Kinder. Immer wieder hörte sie Hubschrauber vorbeifliegen. Erst am nächsten Tag erfuhr die Simbacherin, dass es den Vieren gut geht. Eine befreundete Mutter, die nahe dem Kindergarten wohnt, hatte Königs Kinder zunächst bei sich aufgenommen. Viele ihrer Kameraden mussten dagegen in Schule oder Kindergarten übernachten, weil sie nicht nach Hause kommen konnten. Auch Königs Mann hatte große Schwierigkeiten, sich einen Weg in den Ort zu bahnen, um zu den Kindern zu kommen. "Sechs Stunden hat er mit seinem VW-Bus eine passierbare Straße gesucht. Doch alles war abgesperrt", berichtet die 38-Jährige. Als er es irgendwie schaffte, durchzukommen, quartierte er sich und die Kinder in ein Hotel ein.

Bei so viel Aufregung blieb das Unvermeidliche nicht aus: König bekam nachmittags ihre Wehen. Hebamme Graba empfahl kurzerhand: "Setz dich ins Auto und komm nach Starnberg." Aber wie? Das ist leichter gesagt, als getan, merkte König schnell. Der Bach war nun zwar kein unüberwindbares Hindernis mehr. "Die Verbindungsstraße nach Simbach hatte das Wasser aber komplett unterspült. Die dünne Teerdecke hing in der Luft", erinnert sich König. Ihr Mann half der Hochschwangeren über die herumliegenden Steine hinab in den Ort zu klettern. "Es war nicht so einfach", sagt sie

Im Ort waren fast alle Straßen abgesperrt. "Ganze Häuser hatte der reißende Fluss weggetragen. Sie standen plötzlich auf der B12", berichtet König. Die Flucht vor dem Wasser gestaltete sich "abenteuerlich". Ihr Mann brachte die Simbacherin schließlich nach Starnberg in die Praxis von Hebamme Christin Graba. Dort angekommen, hatte es der Nachwuchs nicht mehr ganz so eilig. König mietete sich in der Pension Möwe in Tutzing ein. Zwei Wochen verstrichen. Aber erst in der Nacht zum Freitag, 17. Juni, bekam die Simbacherin wieder Wehen. Es regnete in Strömen. Deshalb wollte König erst mal abwarten, doch in den frühen Morgenstunden griff sie zum Handy, um Graba zu wecken. Als die Hebamme kam, war es bereits zu spät, um noch nach Starnberg zu fahren. Die Simbacherin gebar einen gesunden Jungen im Hotelzimmer. Er ist 4140 Gramm schwer und 60 Zentimeter lang.

"Es ist das erste Kind, das hier im Haus geboren worden ist", freut sich die Wirtin der Möwe auch drei Tage später noch. Ihre eigenen Kinder hat sie lieber im Krankenhaus bekommen. Unter den Gästen und bei den Nachbarn hat sich das neue Glück schnell herumgesprochen. Einen echten Tutzinger gibt es schließlich nur selten. Die meisten Kinder werden in der Starnberger Klinik zur Welt gebracht.

"Die Nachbarn kamen auf die Terrasse, um das Kind anzuschauen", erzählt die stolze Mutter und hält den Kleinen in Decken gewickelt im Arm. Immer wieder betrachtet sie ihn liebevoll. Er schaut wach in die Welt, schlummert gelegentlich und ist ganz friedlich, als hätte es nie eine Aufregung um seine Geburt gegeben.

"Eine Astrologin hat mir ein Geburtshoroskop überreicht", erzählt König. Oben drauf steht "für das Möwenkind". Die Mutter schmunzelt. Einen richtigen Namen hat der Kleine noch nicht, aber einen Spitznamen jetzt schon. Der Vater habe schon an "Jonathan" gedacht, wegen des Buchs mit der gleichnamigen Möwe, erzählt sie. Aber eine Entscheidung ist noch nicht gefallen.

Herzlich gelacht hat das Paar übrigens über die Expertise der Astrologin. Sie war erstaunlich treffend, ohne dass die Frau wissen konnte, was vorangegangen war. Sie bescheinigt dem Kleinen "ein sehr wasserbetontes Horoskop". Am Montag sind Mutter und Kind zurück nach Simbach gefahren - zum Wasser.

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