Starnberg:Meine Mutter, das Alphatier

Fredi Murer, Regisseur

Ließ sich 20 Jahre Zeit für seinen letzten Film: der Schweizer Regisseur Fredi Murer.

(Foto: Pavel Broz)

"Liebe und Zufall" vom Schweizer Filmemacher Fredi Murer

Von Blanche Mamer, Starnberg

An ihrem 90. Geburtstag hat seine Mutter ihm vier Romane und ihre Lebenserinnerungen übergeben. Von Hand in Sütterlin geschrieben, erzählt der Schweizer Filmemacher Fredi Murer bei der Vorstellung seines Films "Liebe und Zufall" beim Fünfseen-Filmfestival. Sie habe dann noch gesagt, er solle einen ihrer Romane verfilmen, damit könnten die Zuschauer sicher mehr anfangen als mit dem, was er bis dato gemacht habe. Das war 1991. Da die Beziehung zu seiner Mutter nicht einfach war - "konfliktreich" nennt er sie -, hat er sich mehr als 20 Jahre Zeit gelassen. Erst während der Dreharbeiten zu "Vitus", der beim Fünfseen-Festival 2012 gezeigt worden war, habe er mit dem Lesen begonnen. Bald sei ihm klar geworden, dass er darüber einen Film machen werde. Seinen letzten!

"Now or never" sollte der Film ursprünglich heißen, doch dann bekam er den Titel von einem der mütterlichen Romane. "Liebe und Zufall" ist keine eins zu eins Umsetzung ihrer Erinnerungen, die in den 1920er Jahren spielen, sondern ein genial gewobenes Netz aus Biografischem, Realität und Fiktion. Das ältere Ehepaar Elise und Paul könnte durchaus als Porträt der Eltern durchgehen. Die 74-jährige kinderlose Elise hat er mit Sybille Brunner, einer großen Zürcher Theaterschauspielerin, besetzt; für den 79-Jahre alten Architekten Paul fand er den Berliner Schaubühnen-Mimen und Film-Neuling Werner Rehm. Auch seine beiden anderen Protagonisten hat er sozusagen für den Film entdeckt: Ueli Bichsel als Theatermacher Enrique und Silvana Gargiulo als Angela. Sie ist die italienische Haushälterin von Elise und Paul, die von Enrique fürs Theater entdeckt wird, was sämtliche Beziehungen erst mal auf den Kopf stellt, zu komplizierten Verwicklungen führt und schließlich auch Elises Geheimnis ans Licht bringt.

Denn durch Zufall ist ihr Roman Enrique in die Hände gefallen, der sich davon zu seinem neuen Theaterstück inspirieren lässt. Klingt kompliziert, doch Murer gelingt es, eine plausible Geschichte über das Leben, das gemeinsame Altern, die verpassten Möglichkeiten, das nicht gelebte Leben und die Konsequenzen einer Lebenslüge zu erzählen. Und das auf so lockere und humorvolle Art, dass die Trauer zwar spürbar wird, aber nie überwältigt. Die Balance zwischen ernsten Themen, skurrilen Ideen und verrückten Auswegen zu halten, ist Murers Kunst.

"Was ist denn eigentlich biografisch?" will eine Zuschauerin wissen. Die Hintergrundgeschichte ist die des Romans. Der 74-jährige Filmemacher betont, seine Mutter habe sechs Kinder gehabt. Er war der Jüngste und missraten und wie Enrique in der Schule sehr unglücklich. "Ich bin mit 16 von daheim abgehauen. Meine Mutter war ein Alphatier, in ihrer Nähe wäre ich eingegangen." Er habe Verschiedenes ausprobiert, bevor er mit dem Filmemachen begann, als Autodidakt, was er betont. Er habe Filmemachen gelernt, nicht studiert, so wie die jungen Regisseure heute. Er legt Enrique seine eigene Antwort auf die Frage nach dem Wunschberuf in den Mund, nämlich dass er Kunstturner werden wollte, weil er dachte, das habe mit Kunst zu tun. "Authentisch ist auch, wie Elise vor dem jungen Arzt in Ohnmacht fällt. Das habe ich nur in die Gegenwart transponiert", erzählt Murer und schaut verschmitzt. "Falls ich in Ohnmacht falle, ist das eine familiäre Belastung!" Es habe fünf Jahre gedauert, bis die Finanzierung stand. Die studierten Filmemacher säßen mittlerweile auch in den Gremien für die Filmförderung und hätten sein Projekt abgelehnt. " Ich konnte das Exposé nicht in einem Satz zusammenfassen." Das Züri-Schwizer lässt die Sätze ironisch klingen. Die Familienmafia hat zusammengeholfen. Teo Gheorghiu, der Vitus spielte und inzwischen als Pianist internationalen Ruhm genießt, hat durch Benefizkonzerte eine Million Schweizer Franken für den Film erspielt. Wie Enrique sagte: "Je weniger Geld man für ein Projekt hat, desto weniger wird einem reingeredet."

"Liebe und Zufall" ist für den Publikumspreis nominiert und läuft an diesem Samstag, 11 Uhr, in Starnberg.

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