Starnberg:Abheben mit dem Publikum

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Schwer in Form: Andreas Schaerer (Mitte) mit seiner Band "Hildegard Lernt Fliegen". (Foto: Reto Andreoli)

Andreas Schaerer, Sänger der Anfang Februar in Starnberg gastierenden Jazzgruppe "Hildegard Lernt Fliegen" , über Vokalakrobatik, die Schweiz und Schwerelosigkeit in der Musik

interview Von Gerhard Summer, Starnberg

Sie verwandeln Kritiker in Poeten und brave Musikhallen in Tollhäuser: Die 2005 gegründete Schweizer Formation Hildegard Lernt Fliegen gehört zu den aufregendsten Jazzbands, die man derzeit hören kann. Ein Sextett, das stilistisch keine Scheu kennt und witziger sein kann, als der Konzertbetrieb erlaubt. 2014 gewann die Gruppe den BMW-Welt-Jazz-Award, 2015 bekam ihr Frontmann, Vokalakrobat Andreas Schaerer, den Echo-Jazz-Award als Sänger des Jahres international. Im Februar gastieren Hildegard Lernt Fliegen in Starnberg und München. Die SZ sprach mit dem 39-jährigen Schaerer aus Bern.

SZ: Sie wollten früher Geräuschemacher werden, inzwischen setzen Sie die Stimme als gleichberechtigtes Instrument in der Musik ein, das klingt manchmal, als wäre ein Loop im Spiel oder ein Multieffektgerät.

Andreas Schaerer: Als ich vor mehr als zehn Jahren noch vor allem Jazzstandards gesungen habe, ist mir bewusst geworden, dass es keine Literatur, kein Songmaterial für die Klänge gibt, die ich gern mit der Stimme erzeuge. Damit war klar, dass ich eigenes Material generieren muss. Das war die Initialzündung, selbst zu komponieren, um diese Klänge auszubauen und zu verweben mit anderen Instrumenten. Heute ist es wohl eher der Zuhörer, der überlegt: Klingt das jetzt wie ein Loop oder ein Multieffekt? Für mich sind all diese Stimmfarben etwas ganz Natürliches.

Wie funktionieren mehrstimmige Passagen mit der Stimme?

Im Moment versuche ich dreistimmiges Zeug, aber das mache ich noch nicht auf der Bühne. Zweistimmige Sachen funktionieren live gut. Ich mache mit Mund, Zunge und Gaumen die Rhythmen und mit der Stimme die ganzen Töne und Melodien. Ich singe dann durch die Nase.

Wie lange muss man dafür üben?

Schon eine Weile, um damit frei umgehen zu können. Ich habe schon als Kind angefangen, die Stimme spielerisch zu nutzen. So habe ich viele Stimmsounds wie die Mundperkussion entwickelt, ohne zu realisieren, dass ich übe. Als ich mich entschieden habe, die Stimme als Instrument einzusetzen, Jazzgesang zu studieren und eine professionelle Karriere einzuschlagen, war vieles technisch schon sehr weit entwickelt. Ich musste nur noch erkennen, dass da ein Instrument ist, das ich nutzen kann, wenn ich den Mut dazu finde.

Viele Leute sind erstaunt, dass so etwas Irrwitziges wie Hildegard Lernt Fliegen aus der Schweiz kommt, weil sie dieses Land für eher bieder halten.

Ich finde überhaupt nicht, dass die Schweiz bieder ist. Sie hat vielleicht streckenweise etwas allzu Aufgeräumtes, es gibt einen unglaublichen Ordnungssinn hier. Es ist wohl kein Zufall, dass man hier seit Generationen Uhren und andere präzise Technologien fabriziert. Dieses Flair fürs Minutiöse liegt ein bisschen in unserem Naturell. Was Kunst, Musik und Kreativität überhaupt angeht, finde ich die Schweiz aber überhaupt nicht kleinkariert, sondern immer wieder auch visionär. Trotzdem ist es im Moment schon sehr beängstigend, was hier und im Übrigen in ganz Europa passiert - der ganze Rechtsrutsch, die Angst vor Fremdem, die Angst davor, dass der eigene Wohlstand leiden würde, oder dass man ihn zu sehr teilen müsste. Es findet hier momentan, je nach Gesellschaftsschicht, beides parallel statt: das Öffnen und das Verschließen.

In der Schweizer Jazzszene ist Hildegard Lernt Fliegen aber doch eine Ausnahmeerscheinung?

Es ist nicht so, dass es 20 ähnliche Bands gibt, es ist uns definitiv gelungen, eine eigene Klangwelt zu generieren. Da gab es auch kein Vorbild, dem wir nacheiferten. Zur Zeit beobachte ich aber in der Schweiz viele Musiker, die forschen und etwas Eigenständiges schaffen.

Sie selbst hatten sicherlich musikalische Vorbilder. Sie haben beispielsweise mit dem Vokalkünstler Bobby McFerrin zusammengearbeitet.

Klar, da gab es viele Vorbilder. Sängerisch hat mich sicher Bobby McFerrin ganz stark beeinflusst. Eine wichtige Inspirationsquelle war auch Mike Patton, der nach seiner Zeit bei Faith No More sehr experimentelle, kompromisslose Musik gemacht hat. Und es gibt viele Komponisten, die mich immer wieder beeinflussen, Ligeti, Strawinsky oder auch Steve Reich.

Typisch für Hildegard Lernt Fliegen ist ja, dass die Grenzen zwischen Klassik, Jazz, Hip Hop, Rock und Pop verfließen. Ist das momentan ein Trend in der Musik?

In den letzten Jahren beobachte ich, dass in vielen Szenen eine große Lust entstanden ist, sich zu öffnen. In der Kooperation mit klassischen Musikern, gerade auch vor ein paar Wochen mit den Münchner Philharmonikern, lerne ich dermaßen viel, weil die eine andere Sicht auf die Musik haben. Das ist ein großer Gewinn. Umgekehrt bekomme ich ein ähnliches Feedback. Beim klassischen Lucerne Festival haben wir vergangenen Herbst mit einem Orchester zusammen gearbeitet, das mit jungen Musikern besetzt ist, da gab es eine Top-Kontrabassistin, die zugleich Singer-Songwriterin ist. Und der erste Geiger spielt in einer New Yorker Downtown-Hip-Hop-Band. Das kommt jetzt langsam, weil die Kids eben nicht nur mit Mozart und Beethoven aufwachsen. Es gibt aber auch immer wieder Puristen, auch im Jazz. Es gibt Leute, die finden uns furchtbar, das sei keine ernste Musik. Andere fanden auch Frank Zappa furchtbar, und es gab Leute, die fanden den Bebop schlimm, weil der Bebop den "echten" Jazz zerstören würde.

Wobei Ihre Musik ernst gemeint ist, auch wenn viel Humor mitspielt.

Musik als bloßer Comedy-Act würde mich nicht interessieren. Humor darf, muss aber nicht stattfinden. An manchen Abenden entwickelt sich bei gewissen Stücken ein lustiger Moment, beim nächsten Konzert entscheiden wir uns vielleicht anders und suchen dann eher eine poetische Note.

Wie viel ist bei Ihren Konzerten improvisiert und wie viel vorher festgelegt?

Es ist nicht immer gleich. Wenn wir in guter Spiellaune sind, sind 60 Prozent komponiert und 40 Prozent improvisiert. Es gibt aber auch Konzerte, da ist das Verhältnis vielleicht 70:30. Wirklich spannend sind die Konzerte, wo völlig unabgesprochen irgendjemand in einem Stück einen Weg einschlägt, von dem man vielleicht im ersten Moment denkt: Das klappt jetzt überhaupt nicht. Aber dann folgt die ganze Band, und plötzlich merkt man: Das ist aber eine tolle Ecke, in der wir gelandet sind. Das sind die magischen Momente, die kann man nicht planen und die darf man nicht erzwingen.

Die Flugmomente. Woher kommt eigentlich der Name Hildegard lernt fliegen?

Unsere Idealvorstellung ist, dass wir abheben mit den Leuten. Diese Schwerelosigkeit, wenn man sich also in der Musik komplett verliert, sowohl die Zuhörer als auch die Musiker - das suche ich mit allen Bands auf der Bühne. Das ist unser Job als Musiker: dass wir eine Art Freiheit und Offenheit leben, die erstrebenswert ist und die dem Publikum hoffentlich auch hilft, Leichtigkeit zu gewinnen fürs Leben.

Hildegard Lernt Fliegen tritt am 5. Februar, 20 Uhr, in der Jazz-Reihe in der Schlossberghalle Starnberg auf. Karten: 08151/772-136. Tags darauf spielt die Gruppe im Münchner Jazzclub Unterfahrt (21 Uhr).

© SZ vom 28.01.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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