Senioren erzählen:Krailling anno dazumal

Alte Kraillinger berichten von früheren Zeiten

Alte Kraillinger berichten von früheren Zeiten: Prof. Gerald Thurner, Gerda Bauer, Prof. Michael Petzet, Annemarie Langer, Peter Tschochner und Helmut Schmidbartl (von links nach rechts).

(Foto: STA Franz X. Fuchs)

Sechs Senioren erzählen, wie sie in die Würmtal-Gemeinde gekommen sind und wie sie Krieg und Wiederaufbau erlebt haben

Protokoll: Christiane Bracht

Wer kann sich noch an die Zeit erinnern, als Pferdefuhrwerke durch Krailling rumpelten? Als die Nazis die Macht übernahmen, Andersdenkende aus dem Gemeinderat verbannten? Oder die Zeit, als die Amerikaner Häuser im Ort beschlagnahmten? Zeitzeugen zu finden, ist gar nicht so einfach, denn die meisten Senioren, die heute in Krailling wohnen, sind erst in den 1960er und 70er Jahren in die Würmtalgemeinde gezogen. Doch das Interesse daran, wie es seinerzeit in der neuen Heimat zuging, ist groß: Mehr als 50 ältere Damen und Herren lauschten den Berichten von sechs Zeitzeugen, die bei einem Kaffeenachmittag der Senioreninitiative ihre Erinnerungen erzählten.

Gerald Thurner, 82 Jahre

"Ich bin kein gebürtiger Kraillinger, aber trotzdem ein alter Kraillinger. Nächste Woche lebe ich seit 79 Jahren im Ort. Meine Eltern zogen im Frühjahr 1934 in die Hermann-Aust-Straße 17. Damals holten noch Pferdefuhrwerke den Müll ab und auch der Schneepflug aus Holz wurde von Pferden gezogen. Die Bebauung war wesentlich lockerer. Der Mitterweg war ein Feldweg auf einer großen Wiese und auch von der Gautinger Straße bis zum Osthang war alles frei. 1937 kam ich in die Schule. Zwei Kilometer musste ich von da an jeden Tag zu Fuß nach Planegg laufen. Eineinhalb Stunden dauerte das, einen Schulbus gab es nicht. Vor Beginn des Unterrichts wurden die Flaggen gehisst und die Hymne gesungen. Autos gab es in Krailling auch nur zwei; eins davon hatte mein Vater. Mit 60 Jahren machte er den Führerschein, damit er fahren konnte. Das war 1939, das Jahr, in dem der Krieg begann.

Anfang der 40er Jahre mussten wir Buben nach dem Unterricht Lebensmittelkarten an die Bevölkerung verteilen. Klassenweise schwärmten wir aus, immer zwei erledigten einen Straßenzug. Die meisten Leute warteten schon auf uns. Zum Dank gaben sie uns oft ein Fünferl oder ein Zehnerl, reichere Leute sogar mal ein Fünfzigerl. Das war schon was damals. Nach den Bombenangriffen mussten wir auch helfen, in München aufzuräumen. Manchmal retteten wir ein paar Habseligkeiten aus dem Schutt.

Ich kann mich auch erinnern, als 1940/41 in unserem Haus ein Luftschutzkeller eingerichtet wurde. Man zog einfach ein mächtiges Holz quer durch den Keller. Außerdem betonierte man einen kleinen Vorbau, damit die Überlebenden im Ernstfall wieder aus dem Keller kriechen konnten. Damit die Familie während eines nächtlichen Fliegeralarms schlafen konnte, wurden Stockbetten hineingestellt. Heute ist von alldem nichts mehr zu sehen. Das Haus ist toll renoviert.

In der Nachkriegszeit war die Wohnungsnot das große Problem. Flüchtlinge kamen von überall her und wurden auf die Privathäuser verteilt. Die Amerikaner beschlagnahmten ganze Häuser, denn die GIs holten ihre Familien nach Deutschland. Auch in unser Haus wurden mehrere Familien einquartiert. Gedacht war es eigentlich nur für vier Personen und eine Haushaltshilfe, doch nach dem Krieg wohnten 13 Personen dort. Jede Familie hatte ein Zimmer und nicht überall gab es WC und Handwaschbecken. Man musste sich behelfen. Die Gemeindeverwaltung drängte schließlich die Wohnungsgesellschaft Oberbayerische Heimstätten, zwischen der Gautinger Straße und dem Osthang zu bauen. 1961 erwarben wir dort ein Häuschen."

Michael Petzet, 80 Jahre

"Mit fünf Jahren bin ich nach Krailling gekommen - 1938. Als ich in Planegg in die Schule kam - in Krailling gab es damals noch keine - ,waren 86 Kinder in meiner Klasse. Beim Tatzenkriegen mussten wir uns in einer langen Schlange anstellen. Zwei Tatzen waren damals vorgeschrieben. Wir hatten Glück, wenn sich die Lehrerin manchmal verzählt hat.

Die Sommer verbrachten wir im Trinkl-Bad. Schade, dass es nicht mehr funktioniert. Das wiederzubeleben, wäre für Krailling ein schönes Ziel. Der Sprungturm steht ja noch. Im Winter fuhren wir am westlichen Hang Ski, dort wo heute die Häuser stehen. Einmal bin ich gestürzt und mit einem dreifachen Beinbruch liegen geblieben. Die anderen Kinder riefen: "Der Eiszapfen steht nimmer auf." Doktor Stöger hat das Bein dann wieder zurechtgezogen, ohne Betäubung, ohne Röntgenbild oder dass er auch nur wusste, wie oft der Knochen gebrochen war.

Zum Kriegsende fuhren die Amerikaner mit Panzern auf der Pentenrieder Straße. Wir Kinder waren begeistert. Denn die Amerikaner waren sehr nett. Sie gaben uns Kaugummis. Mein erster englischer Satz war übrigens: "Give me chewing gum." Bei unserem Nachbarn hing damals noch ein Hakenkreuz aus Holz. Bevor die Amerikaner kamen, fiel es aus Versehen herunter.

Ich weiß auch noch, als meine Mutter eine Lebensmittelkarte verloren hatte. Das war furchtbar. Die ganze Familie ging damals nach Maria Eich, um zu beten, obwohl wir eigentlich Protestanten sind.

Als Kinder spielten wir ständig mit Waffen. Beim Sanatorium waren während des Kriegs Flak-Stellungen. Dort fanden mein Freund Robert und ich unzählige Granaten. Wir hauten die Spitzen ab, um an das Pulver zu kommen. Damit konnte man einen Ofen anzünden. Außerdem schossen wir mit Panzerfäusten, sammelten Kolben von Gewehren und legten Lager an. Hin und wieder sprengten wir Bäume und versuchten sogar, eine Kanone zu bauen. Meine Eltern wussten von alledem nichts. Erst als ich ein Zündholz an einen Benzinkanister gehalten und mir dabei die Hand verkohlt habe, musste ich ihnen versprechen, die Finger von den Waffen zu lassen. Mein Freund Robert ist bei einer Explosion tödlich verunglückt. Wir zwei glaubten damals, führend zu sein im Umgang mit Waffen. Aber auf einem Klassentreffen stellte ich vor kurzem fest, dass alle anderen ähnliches gemacht haben."

Annemarie Langer, 85 Jahre

"Im Herbst 1946 kam eine Kommission, die die Häuser in Krailling besichtigt hat. 26 Häuser hat sie beschlagnahmt für die Amerikaner. Wir mussten auch raus und zogen in zwei kleine Zimmer beim Zahnarzt Müller. Im Treppenhaus wurde ein kleiner Herd aufgestellt zum Kochen und alle 14 Tage durften wir bei Familie Müller baden. Aus unserem alten Haus durfte jeder einen Stuhl, eine Liege, einen Tisch und einen Schrank mitnehmen. Aber alles konnten wir nicht transportieren. Außerdem passte nur wenig in die Dachzimmer, deshalb mussten wir fast alles zurücklassen. Als wir 1949 eine Sozialwohnungen an der Elisenstraße bekamen, fühlten wir uns wie im Himmel. Erst Ende 1955 gaben die Amerikaner unser Haus wieder frei. Doch es war in einem schlimmen Zustand. Es gab viel zu renovieren. Sie hatten eine Holzvertäfelung mit rosa Ölfarbe angestrichen. Wir haben kurzerhand alles rausgerissen. Unsere Möbel und die aller Nachbarn hatten die Amerikaner zum Flugplatz Fürstenfeldbruck gebracht, dort durften die Hausbesitzer ihre Sachen heraussuchen. Alles war sehr ramponiert. Wir haben unsere Möbel vorsichtshalber nicht wiedererkannt und lieber neue angeschafft, wie die meisten anderen auch."

Peter Tschochner, 71 Jahre

"Ich bin 1942 in Eger geboren. An meinem vierten Geburtstag wurde meine Familie vertrieben. Als wir schließlich in Krailling landeten, hatten wir nichts, nur das, was wir tragen konnten. Man quartierte uns in einem Bauernhof an der Eichfeldstraße ein. Die Einheimischen feindeten uns an, aber es gab auch ein paar andere: Frau Guttenberger von der Kraillinger Brauerei zum Beispiel. Meine Großmutter durfte später im Garten der Brauerei sogar einen Kiosk betreiben. Es war ein einfacher Tisch unter einer Kastanie, auf dem sie Süßigkeiten und Zigaretten anbot. Irgendwann konnte sie nicht mehr so recht und ich musste mit, um ihr beim Verkaufen zu helfen. Langsam bin ich so in den Betrieb der Brauerei reingerutscht. Anfangs wusch ich schmutzige Teller für den Biergarten. Der war allerdings keineswegs so groß wie heute. Im hinteren Teil war eine Wiese für die Rösser, die dort gefüttert wurden. Später stand ich an heißen Sommertagen von 10 bis 22 Uhr an der Schenke. Damals wurde noch in Krailling gebraut. Das Bier war allerdings berühmt-berüchtigt. Es war nicht gut gelagert, junges Bier eben. Man weiß ja, wie das wirkt, und noch dazu wurde schlecht eingeschenkt. Trotzdem gingen an einem Sonntag im Sommer mehr als 30 Hektoliter weg. Und der Lohn für den ganzen Tag Arbeit waren zwei Flaschen Bier, zwei Paar Wiener und zehn Mark. Wenn man das umrechnet, sind das vielleicht 80 Euro. Essen und trinken durften wir aber den ganzen Tag.

Ich war acht Jahre alt, als meine Mutter starb, mein Vater ist im Krieg geblieben. Da hab ich die andere Seite von Krailling kennengelernt. Viele waren uns wohlgesonnen: Bei den Drechslers war ich von da an jeden Tag zum Mittagessen eingeladen. Bei den Bergschneiders hab ich jeden Tag umsonst zu Abend gegessen."

Gerda Bauer, 91 Jahre

"Seit 89 Jahren wohne ich nun schon in Krailling, auch in den 1930er Jahren habe ich schon hier gelebt. Ein besonderes Kleinod im Ort ist die Margaretenkirche. 1315 wurde sie das erste Mal urkundlich erwähnt. Früher wurde sie von zwei Schwestern betreut, der Mesner Nani und der Mesner Therese. Als Kinder waren wir oft dort. Sie hatten einen Bauernhof und wenn wir geholfen hatten, Kühe zu füttern, durften wir die Glocken läuten."

Helmut Schmidbartl, 71 Jahre

"Ich bin auch 1942 geboren, 48 wurde ich eingeschult. Zwei Klassenfotos habe ich noch zu Hause, eins von 1949, da sind 61 Kinder in einer Klasse, ein Jahr später waren es 57 Kinder. Wir mussten barfuß in die Schule gehen. Und weil es bei vielen zu Hause keine Bäder gab, wurden wir ein Mal im Monat in den Keller der Schule hinuntergetrieben und in einem großen Bassin mit einem Schlauch abgespritzt.

Als die Amerikaner kamen, wurde unser Haus an der Luitpoldstraße 4 beschlagnahmt und wir mussten es innerhalb von 48 Stunden verlassen. Mit Kreide hatte die Kommission, die die Häuser inspizierte, markiert, was die Amerikaner haben wollten. Doch uns gelang es gerade noch, das Schlafzimmer, das mein Onkel gemacht hatte, vor ihnen in Sicherheit zu bringen. Die Nummer 5 nebenan war zerbombt, nur im Keller gab es noch einen Raum. Dort versteckten wir es.

Wir wurden in zwei Zimmer in der Albrecht-Dürer-Straße einquartiert. Die linke Seite des Raums war mit Zeitungspapier tapeziert, einen Ofen gab es nicht. Mein Vater baute schließlich einen für zwei Töpfe aus Restblech, damit wir kochen konnten. Nach und nach wurden immer mehr Familien in das Haus zwangseingewiesen. Irgendwann kriegte die Eigentümerin die Wut und mauerte das Treppenhaus einfach zu. Danach mussten wir auf einer Leiter herunterkrabbeln. Ein eigenes Zimmer, wie es heute für Jugendliche üblich ist, gab es damals nicht. Ich hab mit meiner Urgroßmutter in einem Zimmer schlafen müssen. Und bis ich zehn Jahre alt war, musste ich noch in einem Gitterbett schlafen, zusammengerollt wie eine Hund. In der Franzstraße 17 lebten die Leute sogar auf gestampften Boden und dort, wo heute das Feuerwehrhaus steht, war früher eine längliche Bretterhütte, in der ein Eisenbahnwaggon stand. Dort wohnte der Gattinger. "

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