Krailling vor dem Doppelmord-Prozess:"Es muss weitergehen. Irgendwie."

Mitten im beschaulichen Krailling sind zwei Mädchen brutal ermordet worden, jetzt beginnt der Prozess gegen ihren Onkel. In dem wohlhabenden Münchner Vorort bemühen sich die Menschen um Normalität - doch auch zehn Monate nach der verstörenden Tat ist das für viele Bewohner fast unmöglich.

Anna Fischhaber, Krailling

Im Obergeschoss brennt kein Licht. Nachdem die Spurensicherung abgerückt ist, hat die Mutter die Wohnung geräumt. Das Tor zu dem gelben Haus steht offen. An der Tür sind die Polizeisiegel längst verschwunden, genau wie die zahllosen Kerzen und Plüschtiere.

Krailling findet nach zweifachem Kindermord in den Alltag zurueck

Auf dem Schulhof der Grundschule in Krailling erinnern zwei Gedenkbäume an Chiara und Sharon - sie wurden brutal ermordet.

(Foto: dapd)

Alles wirkt normal, wäre da nicht der Mann, der sich in der Dämmerung noch einmal umschaut und prüft, ob er wirklich abgesperrt hat. Seine Tür liegt direkt neben der Tür, die Anette S. in der Mordnacht offen ließ, aus Angst ihre Töchter könnten bei einem Feuer nicht fliehen. Direkt neben der Tür, durch die der Mörder kam.

Knapp zehn Monate ist es her, dass mitten in Krailling im reichen Südwesten von München Chiara, acht Jahre alt, und ihre Schwester Sharon, elf, sterben mussten. Am Dienstag beginnt vor dem Landgericht München II der Prozess gegen ihren Onkel - er soll die Mädchen getötet haben, um an das Geld der Familie zu kommen.

Laut Ermittlungen der Staatsanwaltschaft kämpften die Kinder zu Hause verzweifelt um ihr Leben, bevor sie mit einem Seil gewürgt, einer Hantelstange geschlagen und mit einem Steakmesser erstochen wurden. "Mir läuft es immer noch eiskalt den Rücken runter, wenn ich mir vorstelle, was hier passiert ist", sagt die Verkäuferin in der Bäckerei schräg gegenüber dem Tatort in der Margaretenstraße.

Die Margaretenstraße ist so etwas wie das Zentrum des beschaulichen 8000-Seelen-Dorfes an der Würm. Fast alle Häuser hier haben einen Garten, es gibt einen Gasthof, eine Apotheke, einen Metzger, eine Bäckerei. Und das gelbe Haus, in dem sich der Doppelmord ereignet hat.

Viele hier wollen am liebsten vergessen, was passiert ist. Den Mord, das Entsetzen über das Unfassbare und die Angst vor dem Täter. Sie winken ab, wenn man Fragen stellt. "Wir müssen weiterleben. Es muss weitergehen. Irgendwie", sagt der Barkeeper vom "Schabernack". Er nennt sich selbst "Karg".

Warum hat niemand Thomas S. gesehen?

Vom Tatort sind es nur ein paar Schritte zu der Musikkneipe. Es ist die Kneipe, in der Anette S. die Mordnacht verbrachte, nicht ahnend, was ihre Töchter zu Hause durchmachen. Die Kneipe, die ihrem Lebensgefährten gehört. Die Kneipe, auf die die Polizei zunächst ihre Ermittlungen konzentrierte. Immer wieder wurden Stammgäste auf die Wache gebeten, immer wieder wurden Speichelproben genommen, bis acht Tage nach der Tat schließlich der Onkel der Kinder festgenommen wurde.

Nun hängen wieder Konzertankündigungen an den Wänden, im Nebenraum wird Billard gespielt. Doch der Schein trügt: Der Wirt tut sich seit dem Mord schwer zu arbeiten, vor dem Prozess ist er mit seiner Lebensgefährtin Anette S. abgetaucht, sie sind für niemanden zu sprechen. Eine Zeitlang kümmerten sich die Stammgäste ums "Schabernack", dann hat Karg vorübergehend die Geschäfte übernommen. Eigentlich wollte er nur drei Monate bleiben, doch an diesem Donnerstagabend Anfang Januar ist er immer noch da.

Karg kennt die Familie, sein Sohn ist mit Sharon in eine Klasse gegangen, musste psychologisch betreut werden. Und er kennt die Angst, dass mit dem Prozessbeginn die alten Wunden wieder aufreißen. Karg will diesmal die Gäste vor dem Rummel schützen, doch das ist schwierig.

Nachdem eine Zeitlang so etwas wie Normalität im "Schabernack" eingekehrt war, klingelt inzwischen pausenlos das Telefon. Das ZDF will drehen, die Bild-Zeitung Informationen. Karg will nun einen Aushang machen: Filmen während des Kneipenbetriebs verboten. Doch auch die Gäste diskutieren wieder: Ob man zu dem Prozess gehen soll? Ob Thomas S. die Tat wirklich alleine begangen hat? Warum ihn niemand gesehen hat? Und wenn es nicht er war, wer war es dann?

"Wir vertrauen darauf, dass die Justiz jetzt das Richtige tut", heißt es im Kraillinger Rathaus. Doch auch hier herrscht die Angst, dass es mit der Ruhe vorbei ist. Hauptamtsleiter Franz Wolfrum erinnert sich nur zu gut an die Fernsehteams, die nach dem Mord jeden Morgen vor der Grundschule gegenüber warteten, um die Kinder abzufangen. Der Schule, die auch Chiara bis zu ihrem Tod besuchte. "Wir hoffen, dass die Kinder die Tragödie inzwischen verarbeitet haben", sagt Wolfrum.

Auf dem Pausenhof der Grundschule stehen seit einigen Monaten zwei Birnbäumchen. Sie sollen an Chiara und Sharon erinnern. Doch zumindest zehn Monate nach dem Mord sind die beiden Mädchen und ihr schrecklicher Tod in Krailling noch immer allgegenwärtig.

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