Gilching/München:"Misstrauen und Scham"

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Michaela Pfundmair lehrt Sozialpsychologie an der LMU München. (Foto: OH)

Ein Trainer soll jahrelang 80 Kinder und Jugendliche heimlich gefilmt haben. Zum Prozess benennt Forscherin Michaela Pfundmair die Folgen für die Opfer

Interview Von Christian Deussing, Gilching/München

Die Sache flog auf, als seine Ex-Lebensgefährtin im Dezember 2015 auf seinen PC-Festplatten Aufnahmen von nackten Kindern und Jugendlichen in Umkleidekabinen entdeckte. Die Frau erstattete Strafanzeige gegen den Mann, der damals ein erfolgreicher Jugendtrainer beim TSV Gilching-Argelsried gewesen ist. Die Ermittler der Münchner Kripo fanden später 554 Bilddateien und 985 Videoaufnahmen. An diesem Montag muss sich der einstige Trainer wegen "Besitzes und Herstellens kinderpornografischer Schriften" vor dem Amtsgericht München verantworten. Über den eklatanten Vertrauensbruch und die möglichen Folgen für die Opfer sprach die SZ mit Michaela Pfundmair, Privatdozentin für Sozialpsychologie und gerichtliche Sachverständige, die die "Glaubhaftigkeit" von Zeugenaussagen prüft.

SZ: Das über längere Zeit gewachsene Vertrauensverhältnis ist missbraucht und erschüttert worden. Wie können die Gefilmten diesen Schock und die gravierende Enttäuschung seelisch verarbeiten?

Michaela Pfundmair: Als beste Schutzfaktoren bei sexuellen Übergriffen hat sich in der Forschung unter anderem herauskristallisiert, zu Kontrollüberzeugungen zu gelangen, Optimismus beizubehalten, wichtige Bindungen aufrechtzuerhalten - aber auch so etwas wie die externale Attribution der Schuld, also sich klar zu machen, dass man selbst nicht für das Geschehene verantwortlich ist. Natürlich sind auch Psychotherapien eine Möglichkeit. Vielleicht aber haben viele der Betroffenen keine "seelische Erschütterung" erfahren. Dann sollte man das auch nicht weiter aufbauschen.

Welche Folgen sind möglich, ist auch eine Traumatisierung zu befürchten?

Wenn wir wieder zurück zu den Befunden zum sexuellen Missbrauch gehen, finden Studien natürlich eine stärkere Ausprägung von posttraumatischen Belastungsstörungen (PTBS) bei Opfern als bei Nicht-Opfern. PTBS ist eines der häufigsten Symptome nach sexuellem Missbrauch. Auch Ängste, Verhaltensstörungen und ein geringes Selbstwertgefühl gehören zu häufigen Symptomen. Aber es gilt wieder: Es ist absolut zu verneinen, dass notgedrungen eine psychische Störung zu Tage tritt.

Wie sollten die Eltern in derartigen Fällen mit der Problematik umgehen?

Eltern sollten ein offenes Ohr haben, wenn ihre Kinder darüber sprechen wollen, sie aber keinesfalls dazu drängen, etwas zu sagen. Vor allem, wenn noch Ermittlungen oder eine Verhandlung im Raum stehen, ist das problematisch, da allein schon eine bestimmte Erwartungshaltung, die man einer Person entgegenbringt, Erinnerungsverfälschungen verursachen kann. Wichtig ist vor allem, Kindern eine sichere Basis zu verschaffen. Zentral wäre, Unterstützung und, vor allem Sicherheit, zu vermitteln. Also die Kinder darin zu stützen, dass sie trotz dieser Erfahrung Kontrolle über Situationen haben können und ein übermäßiges Misstrauen im Alltag nicht notwendig ist.

SZ: Gibt es zu dieser Problematik wissenschaftliche Studien?

Zu solch einem spezifischen Fall gibt es keine Forschung, aber es gibt Forschung zu den langfristigen Folgen von sexuellem Missbrauch Minderjähriger. Tatsächlich kann Missbrauch in der Kindheit das Risiko für eine Vielzahl psychischer Störungen erhöhen - aber: die Zusammenhänge sind im Allgemeinen schwach bis mäßig ausgeprägt. Das heißt, Missbrauch ist nur ein unspezifischer Risikofaktor. Der Anteil symptomfrei bleibender Betroffener wird auf etwa 40 Prozent geschätzt. Ob es Viktimisierungsfolgen gibt oder nicht, liegt unter anderem an der Missbrauchserfahrung selbst - der Schwere, Dauerhaftigkeit, Täter-Opfer-Beziehung und an verfügbaren Bewältigungsressourcen sozialer und personaler Art.

Und was heißt das nun hinsichtlich des Gilchinger Falls?

Wenn wir uns darauf beziehen, ist sicherlich mit Schreck, Scham oder zeitweise auch erhöhtem Misstrauen zu rechnen. Dass sich dies in eine klinisch diagnostizierbare psychische Störung auswächst, ist in einem solchen Fall, allein schon aufgrund der eher niedrigschwelligen Erfahrung, eher unwahrscheinlich - kann aber im Einzelfall natürlich auch sein.

Nach Erkenntnissen der Ermittler hat der Angeklagte die Bild- und Videodaten im Internet nicht hochgeladen oder verkauft. Ist dies eventuell ein kleiner Trost für die betroffenen Personen?

Es hilft sicherlich, mögliche Scham zu reduzieren, und in Zukunft womöglich nicht erneut mit diesem Thema konfrontiert werden zu müssen.

Inwieweit sind diese mutmaßlichen Täter psychisch gestörte Spanner oder Voyeure, die zum Beispiel auch ein Pärchen beim Sex heimlich filmen?

Weshalb der Trainer so handelte, darüber kann nur spekuliert werden. Es könnte sich tatsächlich um Voyeurismus handeln, was eine Störung der Sexualpräferenz ist. Es könnte sich auf der anderen Seite auch um Pädophilie handeln, ebenfalls eine Störung der Sexualpräferenz, aber hier geht es nicht zentral um heimliche Beobachtungen, sondern um sexuelle Fantasien oder sexuelles Verhalten mit Kindern. Dazu sollte aber deutlich gesagt werden, dass der Großteil von Kindesmissbrauchen Ersatztäter sind, keine Pädophilen. Das sind freilich nur Spekulationen. Eine "Ferndiagnose" kann nicht gestellt werden.

Welche Warnsignale deuten auf Spanner oder Voyeure hin?

Da Voyeurismus das Nicht-Wissen anderer impliziert und es unzählige Möglichkeiten für heimliche Beobachtungen gibt, kann man schwerlich "Warnsignale" für Dritte identifizieren. Würde eine Person Entsprechendes erzählen, könnte man die Diagnose Voyeurismus dann stellen, wenn es eine wiederholte oder andauernde Neigung gäbe, anderen bei sexuellen oder intimen Tätigkeiten zuzuschauen, meist in Verbindung mit eigener sexueller Erregung und Masturbation und ohne, dass die eigene Anwesenheit offenbart würde oder der Wunsch bestände, mit den Beobachteten eine sexuelle Beziehung einzugehen. Diese Störung findet sich fast ausschließlich bei Männern.

Oftmals werden sehr viele Bilder gemacht und auf dem PC gehortet und gespeichert. Welche Rolle könnte hierbei der Suchtfaktor spielen?

So eine Art Verhaltenssucht könnte natürlich zusätzlich eine Rolle spielen. Verhaltenssüchte sind allerdings keine offizielle Diagnose, sondern könnten eher als Zwangsstörungen oder Störungen der Impulskontrolle eingeordnet werden. Ob eine solche Verhaltenssucht als einziges Erklärungsmodell für das Verhalten des Trainers in Frage kommt, würde ich allerdings bezweifeln.

Könnten Sie Beispiele aus Ihren Fällen zu dieser Thematik nennen?

Aus meiner praktischen Tätigkeit sind mir keine Fälle von Voyeurismus bekannt. Das liegt vermutlich zum einen an dem (im Gegensatz zu sexuellem Missbrauch) eher niedrigschwelligen Tatbestand. Zum anderen geht es beim Voyeurismus ja primär um das Nicht-Wissen der beobachteten Person. Und ohne entsprechende Wahrnehmung gibt es keine Augenzeugenaussage, die beurteilt werden könnte.

© SZ vom 20.01.2018 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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