Gauting:It's magic

Gauting: Kampf mit dem Mikrofon: Benedict Wells und das technische Gerät, das bei der Lesung ein Eigenleben führte.

Kampf mit dem Mikrofon: Benedict Wells und das technische Gerät, das bei der Lesung ein Eigenleben führte.

(Foto: Ulfers)

Schriftsteller Wells zieht alle Register

Von SABINE ZAPLIN, Herrsching

Vielleicht ist es wirklich Magie. Zum Beispiel das Mikro, das während der Lesung von Benedict Wells in der Buchhandlung Kirchheim sich immer weiter vom Autor zu entfernen schien. Wells stellte seinen gerade eben bei Diogenes erschienenen neuen Roman "Vom Ende der Einsamkeit" vor, las mit großer Intensität und einer besonderen Figurenempathie aus der Geschichte um Jules Moreau und seine so früh verletzte Biografie, doch dem Mikrofon ging die Tragödie offensichtlich zu nahe. "Bin ich irgendwie ein Magier?" fragte sich der Autor und griff noch einmal beherzt nach dem technischen Gerät.

Oder die Sache mit dem Coverfoto. "Wir haben ein Bild gesucht, das die Stimmung des Buches perfekt wiedergibt", erzählte Wells und berichtete, wie er gemeinsam mit der Grafikerin in Fotoarchiven gesucht hatte und schließlich auf dieses Motiv gestoßen war, das eine Frau im Arm eines Mannes zeigt, beide mit melancholischem Blick nebeneinander ins Irgendwo starrend. Nicht irgendeine Frau, und nicht irgendein Mann. "Aber wir haben erst nach der Entscheidung für dieses Foto entdeckt, dass es sich um Jeanne Moreau und Francois Truffaut handelt", sagt Wells. "Nein!", wundert sich Buchhändler Marc Schürhoff. "Doch", beharrt der Autor.

Ein passendes Cover, schließlich trägt Hauptfigur Jules den Nachnamen Moreau, und auch mit dem melancholischen Schriftsteller aus Truffauts berühmtem Film "Jules und Jim" ist er durchaus ähnlich. "Vom Ende der Einsamkeit" erzählt auf beinahe 400 Seiten und über mehrere Jahrzehnte die Geschichte von Jules, der als Kind seine Eltern durch einen tragischen Unfall verliert, mit seinen Geschwistern in einem Internat aufwächst, wo die drei sich immer mehr voneinander entfernen, und wo Jules sich mit der geheimnisvollen Alva anfreundet; erst als Erwachsener begegnet er ihr wieder und erkennt, was sie ihm bedeutet. Doch die Vergangenheit holt die beiden ein und drängt sich in ihre tragische Liebesgeschichte.

Benedict Wells, 1984 in München geboren, hat nach seinem Erstlingswerk "Becks letzter Sommer" und den Nachfolgeromanen "Fast genial" und "Spinner" längst die "Wunderkind"-Phase verlassen. Der mittlerweile vierter Roman des Schriftstellers ist ein großes, alle erzählerischen Register ziehendes Buch, eine Tragödie, ein berührendes Epos.

Im Zentrum steht die Frage, was im Innern eines Menschen unveränderlich bleibt und ob sich ein Verlust wie der einer glücklichen Kindheit jemals ausgleichen lässt. Wie kommt man mit einer beschädigten Biografie durchs Leben und wie entkommt man der damit einhergehenden, einen zuverlässig wie sonst nichts anderes begleitenden Einsamkeit? Gibt es das falsche Leben im Richtigen? "Ich bin ja wirklich ein alter zynischer Hund", bekennt Marc Schürhoff, "aber ich musste mir zwischendurch tatsächlich mal ein Tränchen verkneifen."

Insgesamt sieben Jahre hat Benedict Wells an diesem Roman gearbeitet, über 800 Seiten stark war das Manuskript. Am Ende musste der Autor stark kürzen, sich auch von lieb gewonnenen Passagen trennen. Doch gerade das "Kill your Darlings"-Verfahren scheint mit dazu beigetragen zu haben, jene Unschärfe-Methode noch verfeinerter anzuwenden, welche die Erzählperspektive des Fokussierens bestimmt: ein Verfahren, das an die Fotografie erinnert und das ein Vordergrundmotiv aus großer Entfernung heranzoomt, wobei gleichzeitig der Hintergrund verschwimmt. Gerade dadurch wecken die nur noch schemenhaft zu erkennende Konturen im Hintergrund das besondere Interesse: Was verbirgt sich da und warum? Es verwundert nicht, dass ausgerechnet eine Leica-Kamera in diesem Roman eine besondere Rolle spielt.

So haben sich nicht allein Jeanne Moreau und Francois Truffaut in "Vom Ende der Einsamkeit" hineingeschmuggelt, sondern im dramaturgischen Aufbau und im Umgang mit den Figuren auch einer, den Benedict Wells sehr bewundert: der amerikanische Schriftsteller John Irving. Wie ist das möglich, dass ein gerade mal 30-jähriger deutscher Schriftsteller über eine Sprache und eine erzählerische Souveränität verfügen kann wie der Altmeister aus Neu-England? Wer die Lesung in der Buchhandlung Kirchheim erlebt hat, weiß die Antwort: It's magic.

Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: