Gauting:Das große Sachbuch

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Frederik Mair hat in seiner Bachelorarbeit im Fach Design seinen Besitz aufgelistet: 6322 Dinge vom Auto bis zur Zahnbürste. Und hinterher sofort ausgemistet

Von Gerhard Summer, Gauting

Wäre es nicht interessant zu sehen, was Politiker und Kardinäle, Fußball- und Rockstars so horten? All die Rolex-Uhren, Brioni-Anzüge und Märklin-Schätze, Reliquien, Yachten und Instrumente. Vielleicht fänden sich in Donald Trumps Tower sogar Fender-Gitarren aus Mexiko. Ja, möglich. Andererseits: Wer will sich schon entblößen, wenn's nicht sein muss?

Der Gautinger Frederik Mair, 24, hat es getan. Für seine Bachelorarbeit im Fach Design listete der Absolvent der Münchner Hochschule für angewandte Wissenschaften seinen kompletten Besitz auf, vom Auto bis zur Zahnbürste, vom Angelmagneten bis zur Zigarettenschachtel. Heraus kam ein 410 Seiten dickes weißes Buch im Großformat 30 auf 40 Zentimeter. Und am Ende war er selbst verblüfft, wie viele Dinge er angesammelt oder in Schubladen und Kisten verstaut hatte: 6322 an der Zahl. 261 davon hat er noch nie benutzt. 154 sind im alltäglichen Gebrauch. Was bedeutet: "Der Großteil ist toter Besitz."

Der gebürtige Münchner, der in Perchting, Stockdorf und Gauting aufgewachsen ist und noch daheim bei seiner Mutter wohnt, hält sich selbst weder für einen Jäger und Sammler noch für einen Minimalisten. Er hätte keine Lust, nur mit 100 Sachen auszukommen und mit einer Hängematte und einer einzigen, mit persönlichen Utensilien gefüllten Tasche durchs Leben zu ziehen. Auch wenn klar ist: "Alles, was du hast, hat irgendwann dich", wie der dubiose Tyler Durdan in David Finchers Verfilmung des Romans "Fight Club" sagt. Mair schleift einigen Ballast mit, im Grunde ist er aber immer noch mit leichtem Gepäck unterwegs. Denn der überwiegende Teil seines Besitzes ist Papier, seien es alte Unterrichtsprotokolle, Bücher oder die etwa 900 Zeichnungen von Skifahrern, Königen und Schneemännern aus Kindergartenzeiten. Zu seinen ausgefallensten Sachen gehört ein Traumtagebuch und ein altes Schweizer Kartenspiel, zu den Dingen, die ihm am wichtigsten sind, sein Laptop, sein Auto, ein Bild, das sein 2007 gestorbener Vater gemalt hat, und ein Kuscheltier, ein Papagei. Dazwischen finden sich in Kategorien wie Kindheitsreliquien, Dokumente, Ausbildung, Freizeit, Studium und kreatives Schaffen: ein Technics-Plattenspieler und ein Mischpult, Betriebsanleitungen, ein Schlitten, Zeugnisse, Basketballschuhe, ein ausgefüllter Lottoschein, 150 Stifte, Farbtuben, Raptexte, alte Konzertkarten und Eintrittsbändchen, Magneten für ein Angelspiel, das er für sein Patenkind gebastelt hat, und Postkarten.

Wer das große Sachbuch durchblättert, das wie eine Mischung aus Inventur und Warenkatalog wirkt, erfährt einiges über den 24-Jährigen. Ja, Mair hat Hobbys, er spielt Basketball und legt als Discjockey auf. Er ist, was seine Literaturauswahl nahelegt, vielseitig interessiert, hört bevorzugt elektronische Musik und hat mutmaßlich einen großen Freundeskreis. Er trennt sich schwer von Dingen und kann penibel sein. Er hing an seinem Vater. Und er ist eine ehrliche Haut, denn er hat auch aufgeführt, was ihm peinlich war: persönliche Briefe und Kondome zum Beispiel.

Aber es ist nicht so, dass Mair mit seiner Abschlussarbeit "6322 - Eine Bestandsaufnahme" nun in Unterhosen dasteht, ganz nach dem Motto: Zeig mir deine Dinge, und ich sag' dir, wer du bist. Bei den Leuten, die sich mit seinem Sachbuch in zwei Ausstellungen in der Lothringer-13-Halle und in der Hochschule München befassten, hatte die Arbeit ohnehin einen ganz anderen Effekt: Sie überlegten sofort, was sie selbst daheim im Regel, im Keller und auf dem Dachboden stehen haben. Sind das mehr als 6322 Sachen? Ist nicht allein schon die Schuhsammlung gewaltig. Und: Muss das so sein? Genau das war Mairs Absicht: Aufmerksamkeit dafür zu schaffen, was man anhäuft. Er sieht seine Liste der wichtigen, brauchbaren und völlig überflüssigen Dinge denn auch als "Appell, nicht zu horten, jedenfalls nicht unnötig". Und er zog für sich Konsequenzen und mistete gleich mal 700 bis 800 Sachen aus, darunter alle Bedienungsanleitungen.

Mair war auf das Thema gestoßen, weil er sich in der Zeit mit den Themen Besitz und Manipulation beschäftigt hatte. Martin Lindstroms Buch "Brandwashed: Was du kaufst, bestimmen die anderen" beeindruckte ihn: "Ich fand es schon erschreckend, mit welchen Mitteln manipuliert wird." Dazu kamen die Gerüchte, dass eine Datenfirma wie Cambridge Analytica den Boden für den Brexit und Donald Trumps Wahlsieg bereitet haben soll. Der junge Designer meint: Tatsächlich lasse sich die politische Einstellung anhand von Daten über Konsum oder Musikvorlieben mit "einigermaßen hoher Treffsicherheit" ableiten? Vier Monate brauchte er für seine Bachelorarbeit, zuletzt musste er 16-Stunden-Schichten einlegen, um fertig zu werden. Sein theoretischer Text galt der "Maßlosigkeit in unserer Gesellschaft". Im Juli 2016 schloss er sein Studium ab, seit Oktober ist er in der Münchner Agentur KMS Team angestellt, als interactive Designer, der sich um Apps und Webseite kümmert. Was das Tempo seine Karriere angeht, gilt: Frederik Mair ist mit 100 Sachen unterwegs.

© SZ vom 19.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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