Feldafing:Fegefeuer der Eitelkeiten

Verleger Gerd Haffmans liest aus den Tagebüchern der Gebrüder Goncourt, die den Tratsch zur Literaturerhoben und die Treffen in den Pariser Salons der Belle Époque auf 7000 Seiten festhielten

Von Sylvia Böhm-Haimerl, Feldafing

"Die Leute an der Börse sind die gemeinsten Menschen, die es je gab (...) Alles Egoisten, Flegel, Tölpel." Dieses Zitat könnte aus der heutigen Zeit stammen. Tatsächlich aber sind Edmond und Jules de Goncourt, die genau Buch führten über das Leben vor rund 150 Jahren im Paris der Belle Époque, seine Urheber. Die beiden Brüder, die ihr Vermögen stifteten, um den bekannten französischen Literaturpreis ins Leben zu rufen, zeichneten in ihren Tagebüchern ein lebendiges Bild der damaligen Gesellschaft zwischen Klatsch und privatesten Enthüllungen. Laut Gerd Haffmans, der am Freitag auf Einladung des Kunst- und Museumsvereins aus den Erinnerungen vorlas, waren die Brüder die "Ur-Wikileaks". Der Verleger hat die Tagebücher erstmals ins Deutsche übersetzen lassen und vor einem Jahr eine Gesamtausgabe herausgegeben.

Dass Enthüllungen über intime Details, zumal in dieser spritzig-witzigen Form, bis heute nichts von ihrer Faszination verloren haben, zeigte dieser Abend: Der Salon des Hotels Kaiserin Elisabeth war brechend voll. Haffmans setzte die Begebenheiten zwischen Komödie und Drama, zwischen Lust und Frust, gekonnt um. Mit schauspielerischem Talent wechselte er blitzschnell die Rollen, analysierte Begebenheiten, gab kluge Kommentare ab und berichtete lebendig und packend.

Feldafing, Hotel Elisabeth, Lesung

Lebendig und packend: Verleger Haffmans bei der Lesung im Salon des Hotels Kaiserin Elisabeth.

(Foto: Georgine Treybal)

Die Brüder Goncourt waren Dandys und Bohemiens. Alle Salons der damaligen Zeit standen ihnen offen. Ob Künstler oder Schriftsteller, ob hoher Adel oder Politiker, sie trafen alle bekannten Persönlichkeiten ihrer Zeit - Victor Hugo, Oscar Wilde, Gustave Flaubert, Emile Zola, Théophile Gautier und Charles Baudelaire, dazu Schauspielerinnen und Huren. Und was geraunt, geplaudert oder hinter vorgehaltener Hand weitererzählt wurde, haben sie in ihren Journalen schonungslos dokumentiert. Die Brüder begannen mit den Aufzeichnungen am 2. Dezember 1851, am Tag des Staatsstreiches Napoleons III. Mit ihrer "allabendlichen Beichte", wie sie die Eintragungen nannten, beobachteten und porträtierten sie Menschen oder beschrieben Gespräche bis hin zur kleinsten Kleinigkeit. Durch ihre mit wunderbar spitzer Feder geführten Aufzeichnungen erhoben die Brüder den Ratsch und Tratsch von damals zur Literatur. "Jeder Einzelne weiß schon im Voraus, was der Andere sagt, und nichts interessiert irgendjemanden", schrieben sie über ein Treffen mit Freunden. Immer waren sie bei der Arbeit, immer machten sie sich Notizen, sogar erotische Beobachtungen beschrieben sie bis ins Detail. Sie lästerten über die Kleidung der Kaiserin, die wie eine Weinkönigin aussehe, oder über Honoré de Balzac. Er sei nicht echt, schrieben sie, sein Stil sei wie gezwirnt. Von einem Empfang berichteten sie: "150 Leute, Orden über Orden, schreckliche Amtsvisagen." Einen Gast nannten sie "Eidechsenauge". Einen anderen "einen falschen Fuchziger". Über die Regierungsmitglieder lästerten sie, das einzige Menschliche an ihnen sie ihre Vergnügungssucht. Niemand blieb vor ihrem Urteil verschont. Und hätte Victor Hugo gewusst, was die Goncourts über ein Essen bei ihm schrieben, hätte er sie wahrscheinlich nicht mehr eingeladen.

Als Edmond das Tagebuch mit einem letzten Eintrag am 3. Juli 1896, 13 Tage vor seinem Tod, beendete, war es zu einem Mammutwerk von neun Bänden mit mehr als 7000 Seiten angewachsen. Jahrelang hatten drei Übersetzerinnen an dem Text gearbeitet, bis Haffmans die Tagebücher in elf Bänden als deutsche Edition unter dem Dach des Versandhauses Zweitausendeins herausbrachte.

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