Dießen:Grandios aber trostlos

Nur wenige Zuschauer erleben mitreißende Auftritte

Von Gerhard Summer, Dießen

Es geht auf sieben zu, als sich der Gitarrist von Supercharge mal eben auf die Socken macht. Roy Harrington geht in "Sweet Home Chicago" seitlich von der mindestens zehn Meter hohen Bühne ab, die groß und schwarz auf dem Festivalgelände steht, kommt dann immer noch laut spielend durch ein weißes Zelt und steuert auf das Publikum zu.

Er tanzt, marschiert, singt ohne Mikrofon. Bleibt vor den Leuten stehen, spielt seine mit Funksender ausgestattete Gitarre hinter dem Rücken und mit der Zunge und legt raffinierte Akkordprogressionen, Blueslicks und irrwitzig schnelle Läufe hin. Ja, der zweite Abend des Magic Lake Festivals in Dießen fängt grandios an, aber leider auch trostlos. Denn Supercharge treten vor gerade mal 100 Zuhörern auf, was sehr weit unter den Erwartungen des Festivalerfinders Tom Bohn liegt. Viele haben es sich in Liegestühlen bequem gemacht, die Sicht ist ja bestens. Zuletzt war die Rede davon, dass pro Tag 3000 Leute auf die Anlagen am Ammersee strömen könnten.

Auch später muss keiner Platzangst haben. Bei den Bananafishbones sind höchstens 500 Leute dabei, bei den 2008 wiederauferstandenen Selig aus Hamburg dürften es kaum mehr sein. Das ist schon deshalb schade, weil der weitläufige Schauplatz direkt am See tatsächlich das Zeug dazu hätte, Magie zu entwickeln. Die Stände, lauschigen Ecken, Bars und überdimensionierten Indianerzelte sind liebevoll aufgebaut. Es gibt Lichtkunst, Jongleure, Bauchtänzer und Stelzengänger, die als Aliens mit blauen Tüchern ihre Runden ziehen. Aber natürlich hat das Publikums-Desaster auch seine Gründe: unter anderem die Wiesn und das Ausflugswetter. Ende September ist es ohnehin fast zu kalt für ein Open-Air. An einem heißen Sommerwochenende wäre dieses Programm eher ein Feger, so aber wirkt das Magic Lake wie ein Festival, das viel zu spät aufgestanden ist.

Dazu kommt das Problem mit den Headlinern: Keine der drei altgedienten Bands bewegt wohl die ganz großen Massen, so gut sie auch sind. Albie Donelly, der Chef von Supercharge, zum Beispiel hat die vergangenen vier Jahrzehnte mit Sonnenbrille und Bart unbeschadet überstanden und sogar noch den Humor, angesichts der großen Leere "Thank you, Woodstock" ins Mikro zu rufen. Sein Septett legt pfeilgeraden, rhythmisch abgezockten R&B, Blues und Rock'n'Roll hin, vom "Happy Birthday Blues" bis zu "Hoochie Coochie Man". Schlagzeuger Uwe Peterson hat sogar noch Muße für Selfies. Die Tölzer Fishbones, die auch schon 30 Jahre im Geschäft sind, legen die stilistisch überraschendste Show hin. Mit am schönsten sind ihre erdigen Countrysongs, aber auch Ska-Nummern, Techno-Experimente,das jazzig entspannte "Honestly", Prog-Rock mit einem Schuss Led Zeppelin, ihre Kasatschok-Persiflage "Leprosy"und ihre alten Hits zünden gewaltig. In Zeiten des immer höher zwitschernden Hitgesangs wirkt Sebastian Horns abgrundtief dunkle Stimme wunderbar altmodisch und gegen den Strich gebürstet. Und wie es Peter Horn schafft, auf einer simplen Westerngitarre mit so viel Verzerrung zu schrammeln und zu zaubern, ohne dass ihm das Ding um die Ohren fliegt, ist schon erstaunlich.

Seligs Grunge, Punkrock und Pop wirkt danach fast ein wenig eingleisig und wie glatt gebügelt in der Dynamik, so eingängig die Riffs von Christian Neander auch sind. Das größte Manko: Sänger Jan Plewka kann sich kaum gegen Neanders mächtige Gitarre und gegen die durchdringende Snaredrum des Schlagzeugs durchsetzen. In den ersten vier, fünf Liedern, darunter auch der Erstling mit dem Titel "Mädchen vom Dach" und "DJ" vom neuen, für November angekündigten Album, geht er völlig unter. Bei "Nicht alles auf einmal" ist er endlich einmal gut zu hören, aber dann geht das Spiel wieder von vorne los. Und gegen elf machen sich langsam die ersten Zuhörer auf den Heimweg, einfach weil es kalt wird.

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