Dießen:Der rettende Blick von Gegenüber

Beim Kurzfilmfestival erleben die Zuschauer bezaubernde Geschichten.

Gerhard Fischer

Dießen- Ein dünner Mann steigt in seiner Küche auf einen Stuhl, er sieht traurig aus. Der Mann legt sich ein Seil um den Hals, er will sich aufhängen. Bevor er sich vom Stuhl fallen lässt, blickt er noch einmal aus dem Fenster, als wolle er sich verabschieden von einer Welt, die es nicht gut gemeint hat mit ihm. Und da sieht er einen Jungen, der im Haus gegenüber am Fenster steht und zu ihm herüber schaut. Der dünne Mann erschrickt. Der Junge würde ihm zusehen, wie er sich aufhängt! Das will er nicht.

Der Mann versucht, die Situation zu überspielen, er schraubt an der Lampe herum, die von der Küchendecke hängt. Der Junge soll glauben, er habe sich auf den Stuhl gestellt, um die kaputte Birne zu wechseln. Man könnte das, was der Mann tut, Übersprunghandlung nennen - oder in diesem Fall: eine Nichtsprunghaltung, weil er nicht vom Stuhl herunter springt. Was sich daraus entwickelt, ist große Klasse: Der Mann spielt erst mit der Glühbirne, dann balanciert er eine Flasche auf dem Kinn, schließlich zaubert er mit einem Luftballon - es ist eine Vorstellung für den Jungen, eine pantomimische Meisterleistung. Und am Ende zieht er den Vorhang der Küche zu - wie den Vorhang einer Bühne.

Die Jugendjury des Dießener Kurzfilmfestivals zeigte im Ammersee-Gymnasium neun Filme, die sie aus 50 ausgewählt hatte. Und die Zuschauer - es waren fast 200 gekommen - durften danach einen Sieger wählen. Es gewann die bezaubernde Geschichte des traurigen Mannes, sie heißt "Ein Augenblick in mir". Dieser Film steht nun im Finale des Festivals am heutigen Samstag.

"Ein Augenblick in mir" hat zwar verdient gewonnen, das schon, aber die Zuschauer hatten es verdammt schwer, denn keiner der neun Filme war schlecht, fast jeder hätte siegen können, zum Beispiel "The day we danced on the moon". Es geht um eine Band, deren Mitglieder behindert sind oder psychisch krank, und es ist kein trauriger Film, sondern einer, der gute Laune macht. Und ein wenig nachdenklich. Eine schwarze Frau, auf den ersten Blick ein richtiger Wonneproppen, sagte zwischen den Musikstücken: "Ich habe immer gesungen, doch die anderen Menschen wollten das nicht. Bei der Band aber sagten sie: Wunderbar, mach weiter!" Bei dieser Band nimmt man sie, wie sie ist. Anders eben. Aber nicht schlechter.

Schöne Sätze sagte auch die 18-jährige Veronika, eine fragile Autistin. Das heißt: Eigentlich sagte sie diese Sätze nicht, denn Veronika kann nicht sprechen, sie schreibt. "Hätte ich das Schreiben nicht", schreibt sie, "würde ich in der Tiefe eines vergessenen Brunnens sitzen". Wer den Film sehe, tauche ein "in die Gefühls- und Gedankenwelt einer außergewöhnlichen Frau", sagte die Schülerin Ricarda von Meding, die mit Anselm Killi den Abend moderierte. Meding und Killi hatten sich verkleidet, sie trug einen Leopardenfell-Umhang, er Fliege und falschen Schnauzer. Sie parodierten überdrehte Moderatoren, sagten oft "ich bin überwältigt" und "ich danke allen"; häufig gelang es, nur manchmal klang es matt. Insgesamt waren sie aber fast so gut wie die starken Filme dieses Abends.

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