Städtischen Atelierhaus am Domagkpark:Vertreibung aus dem Reservat

Die Schocknachricht kommt mitten in den Feiern zum 25-jährigen Bestehen: Mehr als der Hälfte der über 100 Künstler wird gekündigt

Von Jutta Czeguhn

Postfächer. Wie viele sind es? Eins, zwei, drei ... Exakt 102, denn so viele Räume hat es im Städtischen Atelierhaus im Domagkpark. Wer durch den Haupteingang kommt, muss zuerst an dieser wandbreiten Metall-Installation im Treppenhausfoyer vorbei. Es sind ganz reale Briefkästen, keine Kunst. Offenbar wurden einige von ihnen schon länger nicht geleert, durch die Schlitze quillt Papier. Zusteller müssen sich hier etwas Zeit nehmen, denn nicht alle Fächer sind mit Namen versehen. Allerdings gibt es an jedem Kasten Codes aus Nummern und Buchstaben, die auf die Lage der Ateliers im Dreikanthof hindeuten. N.O.16 etwa gehört Bernhard Springer, er hat, wenn man das richtig entschlüsselt, im Obergeschoss, Nordflügel, seinen Arbeitsraum. Der Maler ist einer der Sprecher im sogenannten Haus 50, das als kleines Reservat übrig geblieben ist von "Europas größter Künstlerkolonie" mit ihren einst elf Häusern auf dem ehemaligen Funkkasernen-Gelände. Dieser Tage feiern sie dort eigentlich 25 Jahre Domagk-Ateliers. Doch ist da eine Schwere zu spüren, eine Bedrücktheit, die über allem liegt. Denn just zum Jubiläum hat die Stadt bekannt gegeben, wer von den Künstlern sein Atelier im Frühjahr 2019 räumen muss und wer fünf weitere Jahre bleiben darf.

Domagk-Ateliers, Domagkpark Außengelände

Solitär im Neubaugebiet: Von einer der größten Künstlerkolonien Europas blieb nur noch Haus 50 übrig.

(Foto: Florian Peljak)

Durch lange helle Gänge gelangt man zu Bernhard Springers Atelier, Bilder hängen oder lehnen an den Wänden, das Fenster steht offen, ein Sofa in der Ecke, Kisten, viele Kartons. Springer muss nicht packen, er gehört zu den 43 Glücklichen, die ihr Atelier behalten dürfen, 57 aber seiner Künstlerkolleginnen und -kollegen wurden ausjuriert. Glück strahlt Springer nicht gerade aus. Mit so einem "Kahlschlag" habe er nicht gerechnet. Er selbst ist seit 1995 auf dem Gelände im Münchner Norden. Die Geschichten, die er von diesen goldenen Neunzigerjahren erzählen kann, das weiß er wohl nur zu gut, hören sich recht surreal utopistisch an für jemanden, der im turbo-gentrifizierten München des Jahres 2018 lebt: Eine "Graswurzelbewegung" sei das damals gewesen nach Abzug der Bundeswehr, Handwerker, Musiker, Filmer, Tänzer, die alte Alabamahalle, sogar ein Sikh-Tempel und 250 Ateliers in Selbstverwaltung. "Wenn Künstler damals in die Stadt kamen, haben sie erst einmal hier vorbeigeschaut", erinnert sich Springer.

Domagk-Ateliers, Domagkpark Außengelände

Aktuell wird über den Bau weiterer Ateliers auf dem Gelände diskutiert.

(Foto: Florian Peljak)

Über dieser "einzigartigen Kultur des Miteinanders" hing jedoch von Anfang an ein Schatten. 2001 wurde es bitter ernst, die Stadt hatte das Gelände erworben und für Wohnungsbau und Gewerbe ausgeschrieben. Was würde übrig bleiben von der Künstler-Utopie? Im Workshop "ZukunftDomagk" fanden zunächst alle an einen Tisch; Künstler, die Bürger, Politiker, Architekten, Stadtplaner. Strategien wurden entworfen, um den Kreativen ein Überleben im neuen Wohnquartier zu sichern. Eine "quälende Hängepartie" sei das gewesen, beschreibt es Springer. Ein endloser Kündigungsreigen setzte ein, bis nur noch das Haus 50 übrig war mit 6000 Quadratmetern Fläche für 95 Ateliers, fünf Musikprobenräumen und zwei Gastateliers, und der Halle 50 mit 160 Quadratmetern Ausstellungsfläche. Wie ein Solitär liegt das Atelierhaus mit seinem grünen Innenhof nun im feschen, neuen Domagkpark.

Domagk-Ateliers, Domagkpark Außengelände

Genau 102 Postfächer sind es, so viele Räume gibt es im Städtischen Atelierhaus im Domagkpark.

(Foto: Florian Peljak)

"Mit Nostalgie kommen wir nicht weiter", befindet Gotlind Timmermanns, die ihr Atelier im Mitteltrakt von Haus 50 hat. Auch sie darf bleiben. Das Rotationsverfahren empfindet sie als "unwürdig", für die Ausgemusterten sei es ein "Tiefschlag", man bekomme einen Stempel aufgedrückt, dürfe sich bei anderen städtischen Ateliers nicht mehr bewerben. Und auf dem freien Markt etwas zu finden, sei im Raum München schier unmöglich. "Mit der Rotation wird doch nur eine Not durch eine andere ersetzt", sagt Timmermanns.

Bernhard Springer Porträt

Künstler-Sprecher Bernhard Springer.

(Foto: oh)

Der Installations- und Objektkünstler Thomas Silberhorn ist seit zwei Jahren - auch das gibt es - als Untermieter im Atelierhaus gemeldet. Gerade hat der Akademie-Absolvent den Kemptener Kunstpreis bekommen. In seinem Atelier hat sich der 35-Jährige eine Werkstatt für Holz, Metall und Elektronik eingerichtet, dort fertigt er unter anderem eine Art Sonnenuhr für die Grundschule an der Haimhauserstraße. Eine Auftragsarbeit der Stadt, die ihn jetzt aus dem Atelier wirft. "Es fällt leider schwer, so etwas nicht persönlich zu nehmen", erklärt er. "Ich hatte nicht damit gerechnet, dass ich rausfliege", sagt Susanne Schütte-Steinig. Sie hat ihr Atelier im Mitteltrakt Erdgeschoss, noch. Wie es nach April 2019 mit ihr weiter geht? Schulterzucken. Ebenso wie Thomas Silberhorn sind ihr die Auswahlkriterien ein Rätsel, auch wenn sie nicht grundsätzlich gegen eine Fachjury ist.

Die Jury wird vom Stadtrat bestellt, ihr gehören Stadträte an, aber auch Fachleute der Kunst-Akademie, des Berufsverbands Bildender Künstler München und Oberbayern, Museums-Experten, Vertreter der Initiative Münchner Galerien und Kunstpreisträger. Die 95 Domagk-Ateliers wurden ausgeschrieben, interne wie externe Künstler konnten sich bewerben. Die Quote von 57 neu zu 45 alt sei nicht festgelegt gewesen, sie habe sich im "Quervergleich" der eingereichten Bewerbungen ergeben, sagt Jennifer Becker, Sprecherin des Kulturreferats. Beraten wird hinter verschlossenen Türen, weshalb über die Kriterien vor ihr nur Allgemeines zu erfahren ist wie etwa die Ausstellungspräsenz, "ungewohnt kreative Ansätze", "innovative Kraft und Eigenständigkeit" oder "kreativer Mehrwert". Auch CSU-Stadtrat Marian Offman, der der Jury angehört, kann sich nicht näher äußern. Der grundsätzliche Gedanke sei, junge Künstler zu unterstützen und bei den arrivierten davon auszugehen, dass sie sich "selbst orientierten". Offiziell dringt aus den Jurysitzungen also kaum etwas nach außen, unter der Hand wird allerdings angedeutet, dass es dort recht enervierend zugeht. "Ich will gar keine Jury", beharrt Bernhard Springer, der sich auch eine Rückkehr zu echter Selbstverwaltung wünscht. Heute kann die Künstlerschaft, die sich in einer gemeinnützigen GmbH zusammen geschlossen hat, zwar Ausstellungsprojekte und Ateliertage eigenständig organisieren, nicht aber wie früher auch die Nachbelegung der Ateliers.

Wo geht es hin mit den Ateliers? Doku e.V., einer der Trägervereine der Domagk-GmbH, hat Modelle für neue Projekte entwickelt, etwa Container-Lösungen oder Mini-Ateliers, aber auch eine mögliche Nachverdichtung direkt auf dem Gelände von Haus 50. Auch Architekten und die CSU-Stadtratsfraktion unterstützen die Idee. Für Thomas Silberhorn, Susanne Schütte-Steinig und die anderen 55 Domagk-Künstler, die bald ausziehen müssen, so fürchtet Bernhard Springer, kommen solche Lösungen aber wohl zu spät.

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