Stadtleben:Die Nacht ist zum Träumen da

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Wenn die Sonne untergeht, füllen sich der Gärtnerplatz und die Gehsteige am Reichenbach-Kiosk. Die Zeit wird in Biereinheiten gemessen und die Gedanken beginnen zu wandern. Ein Streifzug

Von Thomas Jordan

Nach einem heißen Tag gibt die Nacht die Luft frei für Träume, die in der Hitze der Büros erstickt werden. Ein leichtes Lüftchen weht Samstagabend gegen halb elf über die Straßen zwischen den Löwen an der Feldherrnhalle und der Wasserfontäne am Stachus. Für manche wird es eine ganz besondere Nacht. Aus dem Brunnenhof der Residenz strömen die Besucher der "Italienischen Nacht", und während die Klänge in ihnen nachhallen, tauschen Barbara und Thomas Hubinger einen filmreifen Kuss vor dem Wittelsbacher Brunnen, umringt von Freunden. Es ist Thomas Hubingers 55. Geburtstag. Seit der Weltmeisterschaft von 1990 lieben die beiden Oberhachinger die kratzigen Hymnen auf die italienische Lebensart wie "Una festa sui prati" und "Un estate Italiano". "Wir feiern jetzt zu Hause weiter", verabschieden sie sich.

Während die Mittfünfziger den Heimweg antreten, geht für viele Jüngere der Abend erst los. Die Haltestelle für den Trip in die Sommernacht ist das Stachus-Rondell. Dort sitzen Touristen und versprengte Gestalten auf den Steinen vor dem Brunnen und lassen sich den Rücken kühlen von Wassertropfen, die der Wind herüberweht. Ein paar Meter davor warten Jugendliche auf ihre Freunde. Unter Schulterklopfen und Gelächter wächst die Gruppe minütlich an. Ein letztes Anstoßen mit Bierflaschen, dann brechen sie zur U-Bahn auf, um die Nacht für sich zu erobern.

Ein anderer Startpunkt, der Kiosk an der Reichenbachbrücke: Spanische, englische, russische und deutsche Sprachfetzen flirren umeinander. Menschen aus ganz Europa treffen für einen kurzen Moment zusammen, rüsten sich aus für die Nacht, verschwinden wieder. Dominik Zander trägt einen ironischen Tropenhut auf dem Kopf und braune Latschen an den Füßen. Er wohnt gleich um die Ecke. "Das ist einfach der Kiosk hier", sagt er, "da weiß jeder, was gemeint ist". Aus einem kleinen Lautsprecher dudelt Weltmusik. Zander sitzt mit seinen Freunden im Kreis auf dem Gehsteig neben dem Kiosk. Ein Tourist hat sich mit einer Flasche Schnaps selbst eingeladen und diskutiert angeregt mit. Zander hadert ein wenig mit seiner Heimatstadt. "Nicht echt" kommt ihm die Atmosphäre in München manchmal vor. "Alle machen stumpf das Gleiche, hören die gleiche Musik." Eine "Bierzeltatmosphäre ohne Bierzelt" nennt der Koch das. Andererseits, wenn er, dessen Familie aus Berlin stammt, nach dem Urlaub wieder nach München zurückkomme, dann schätze er die "wohlige Atmosphäre" hier. Und die grölenden Fußballfans auf der anderen Seite der Brücke, die ihn eben noch genervt haben? "Irgendwie gehört das ja dann auch dazu", sagt er versöhnlich.

Von den diskutierfreudigen Freunden an der Reichenbachbrücke ist es nicht weit zum Zentrum der Münchner Sommernächte, dem Gärtnerplatz. Gut 300 junge Menschen genießen auf den Bänken, dem Rasen und auch innerhalb der Begrenzung der Blumenbeete die Nacht. Auf den wenigen vollen Mülleimern stapeln sich Dutzende leere Flaschen, zwei Jungs zupfen zaghaft Akkorde auf einer Stahlsaitengitarre. Die Zeit wird in Biereinheiten gemessen. "Drei Bier" lang sitzen Simon Stadler und seine Freunde schon auf der Wiese des Verkehrskreisels. "Also etwa zwei Stunden", übersetzt der 22-Jährige. An solchen Sommernächten schätzen die Studenten die "lässige Stimmung" am Gärtnerplatz. "Wenn ich frage, würde ich von jemandem ein Bier kriegen", sagt Lukas Käser, der neben Stadler sitzt. Und die Frankfurterin Sabrina Schaaf, die es sich keinen Meter entfernt mit Arbeitskolleginnen bequem gemacht hat, ergänzt: "In München hast du die Natur und das Flair. Hier kann ich in der Isar schwimmen, im Main geht das nicht."

Wer braucht schon einen Barhocker, wenn es der Boden auch tut - wie hier an der Reichenbachbrücke. (Foto: Johannes Simon)

Während man auf die frisch renovierte Fassade des Gärtnerplatztheaters blickt, steigt einem von Zeit zu Zeit ein leicht säuerlicher Biergeruch in die Nase, der über dem ganzen Kreisverkehr hängt. Tatjana hat es sich an einer kleinen Balustrade des Blumenbeets gemütlich gemacht. Die 28-Jährige ist Pilotin, ihren Nachnamen will sie lieber nicht veröffentlicht sehen. Schon als Teenager wollte die Münchnerin später einmal beruflich fliegen. Sie verdient gut, hat einen festen Vertrag - sie könnte zufrieden sein. Aber die Monotonie in ihrem Job nervt die 28-Jährige manchmal. "Du beschränkst dich immer auf einen bestimmten Horizont", sagt sie und nippt an ihrem Liquid Cocaine. Kaffee mit Schnaps ist das, und man muss ziemlich lange anstehen in den Bars rund um den Gärtnerplatz, um den angesagten Drink zu bekommen. Ab und an spielt sie mit dem Gedanken, eines Tages Germanistik zu studieren. Ihr Vater, ein ehemaliger Deutschlehrer, der früh gestorben ist, hinterließ ihr die Hälfte seiner Bücher. An manchen Tagen stehe sie vor diesen Büchern und denkt: "Du musst es machen."

Während die Pilotin die Nacht dazu nutzt, über ihre Träume nachzudenken, sieht Kacey Carpenter aus, als wäre er bereits im siebten Himmel. Zusammen mit Freunden hat er gegen zwei Uhr auf dem Geländer der Reichenbachbrücke zwei Masskrüge und einige Bierflaschen aufgereiht. Die Gruppe hat schon einiges hinter sich. Das Hofbräuhaus und einige Bars haben sie bereits ausprobiert, nur ins P 1 sind sie mit ihren Flip-Flops und den kurzen Hosen nicht hineingekommen. Deswegen sind sie jetzt hier. Am meisten begeistert Carpenter, der zum ersten Mal in seinem Leben in München ist, dass seine neue Dating-App hier so gut funktioniert. Die sei "besser als alles bisher Dagewesene", erklärt er angeregt. Da könnten nämlich die Frauen auswählen, wer sie interessiere. Und die Münchnerinnen machten davon eifrig Gebrauch. Kein Vergleich zu Hannover, wo er zuletzt gewesen sei. In dieser Nacht könnte für ihn vielleicht noch ein Traum in Erfüllung gehen.

© SZ vom 26.06.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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