TSV 1860 München:Bis zum letzten Tak-tak-tak

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Die Löwen müssen nach dem Heimspiel gegen Bochum weiter zittern. Dabei hatte sie Investor Ismaik so gut ausgestattet wie nie. Er hatte Wunderstürmer geholt. Und einen portugiesischen Tänzer.

Von Markus Schäflein und Philipp Schneider

Was für eine Saison ist das nur beim TSV 1860 München? Trainer, Sportdirektoren, Spieler, Geschäftsführer, Mitarbeiter - es wurde so ziemlich alles ausgetauscht, was auszutauschen war. Das Reinigungsteam immerhin ist dem Vernehmen nach verschont geblieben, dafür wird nun vornehmlich hinter verhangenen Zäunen trainiert, also geheim. Alles in allem: Eine ganz normale Saison beim TSV 1860 München. Die eigentlich mit dem Heimspiel gegen den VfL Bochum zu einem versöhnlichen Ende gebracht werden sollte, doch Sechzig wäre nicht Sechzig, wenn nicht auch das schiefgegangen wäre. Es ist wie immer: Die Entscheidung fällt am letzten Spieltag.

Der Beginn

Beim TSV 1860 München ist es üblich, mit großer Vorfreude und hohen Erwartungen in die Saison zu gehen, um dann vom durchschlagenden Misserfolg umso schockierter zu sein. Aber so groß und hoch wie in dieser Saison waren Vorfreude und Erwartungen schon lange nicht mehr gewesen, schließlich wurden über Investor Hasan Ismaik so viele Darlehen in den Spielerkader gepumpt wie nie zuvor. Es kamen Ivica Olic und Stefan Aigner, es kamen die brasilianischen Wunderspieler Victor Andrade und Ribamar, es kamen der neue Geschäftsführer Thomas Eichin von Werder Bremen und der neue Übungsleiter Kosta Runjaic, von dem Ismaik sagte, dass er "der ideale Trainer für unseren Verein" sei, weil er "Strategie, Jugend, Herzblut und Charakterstärke" verkörpere. Er gehe davon aus, dass Runjaic "künftig einer der größten Trainer" werde. Die Saison begann zäh, mit einem 0:1 in Fürth, einem 1:0 gegen Bielefeld, einem 0:0 in Karlsruhe und einem Innenbandanriss im Knie bei Stefan Aigner. Nach drei Niederlagen im Oktober, bei denen neben Aigner auch der wegen unerlaubten Sportwetten gesperrte Olic fehlte, musste Runjaic schon um Geduld werben. Nach dem 1:1 gegen Kaiserslautern Ende November, bei dem Aigner nach der Verletzungspause erstmals wieder mitspielte, stand 1860 am 13. Spieltag mit 12 Punkten auf Platz 14. Victor Andrade hatte sich einen Kreuzbandriss zugezogen, Ribamar fehlte dauerverletzt.

Die Zäsur

Zwei Trainer, eine Richtung? Kosta Runjaic...

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(Foto: imago/Sven Simon)

...wurde von Investor Hasan Ismaik...

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(Foto: imago/DeFodi)

...auf recht besondere Art durch Vitor Pereira ersetzt. Das Spiel des TSV 1860 sieht seither zwar oft ansehnlich aus, Pereiras "We go to the top!" wartet aber immer noch auf Umsetzung.

Auch mit einem halben Jahr Abstand wird das surreale Stück, das daraufhin an der Grünwalder Straße zur Aufführung gebracht wurde, nicht fassbarer. Im Gegenteil. Mit einem halben Jahr Abstand wirkt es vielmehr so, als habe der sportliche Abstieg des TSV 1860 München genau an diesem Tag erst so richtig Fahrt aufgenommen. Am Tag, als Anthony Power wie Kai aus der Kiste als Sechzigs neuer Geschäftsführer vorgestellt wurde. Überraschend war Powers Präsentation, die Hasan Ismaik höchst selbst diktierte ... pardon, moderierte, gleich aus zwei Gründen. Zum einen wusste zu Beginn der Präsentation keiner der geladenen Journalisten, dass Sechzig überhaupt einen neuen Geschäftsführer benötigte. Thomas Eichins Degradierung auf eine Hierarchieebene, auf der ihm nichts anderes bleiben würde, als um Auflösung seines Anstellungsverhältnisses zu bitten, vollzog Ismaik sozusagen per spontanem Handstreich. Hinzu kam, dass der Jordanier erst auf Nachfrage einräumte, dass sich der neue starke Mann namens Power bereits im Raum befand, sich mitten unter die Journalisten gemischt hatte, dann aber immerhin wie auf Knopfdruck zu sprechen begann: "Good afternoon, my name is Anthony. Ich bin 50 Jahre alt, in den vergangenen 25 Jahren habe ich in vielen Firmen gearbeitet, überall auf der Welt."

Das kann man natürlich so machen. Den Ehrenpreis von Transparency International handelt man sich so aber nicht ein. Wird sich sicher auch Trainer Kosta Runjaic gedacht haben, der seit diesem Tag nicht mehr gesehen wurde in Giesing. Was, zugegeben, daran lag, dass dieses etwas verunglückte Scherbengericht, äh, diese Pressekonferenz eigentlich Runjaic' Entlassung zum Thema haben wollte.

Was das alles sollte?

"Das soll am besten Hasan beantworten. Ich bin Präsident des e.V.", sagte Peter Cassalette, der Präsident des e.V. Hat der dann nur nicht gemacht.

Der freundliche Helfer

An einem sonnigen Dezembertag setzte sich Daniel Bierofka mit den Journalisten ins Löwenstüberl und sagte einen schönen Satz: "Es war das letzte Mal, dass ich hier als Interimstrainer und Feuerwehrmann eingesprungen bin. Ich habe das jetzt zweimal gemacht, weil mein Verein in einer schwierigen Situation war." Nun arbeitet Bierofka schon sein ganzes Leben beim TSV 1860 München. Insofern weiß er auch, dass sein Klub immer mal wieder in einer schwierigen Situation steckt. In der Tat aber war Bierofkas Sondergenehmigung zum Coachen eines Zweitligisten nach drei Spielen als Chef an der Seitenlinie bereits zum zweiten Mal abgelaufen. Schon in der Vorsaison hatte er den Klub mit einem Last-Minute-Gastspiel vor dem Abstieg bewahrt, nun half er aus, bis zum Dienstantritt des nächsten Trainers. Und noch etwas kündigte Bierofka an: Er sei nicht dazu geschaffen, dauerhaft als Assistent eines Cheftrainers die Hütchen auf den Rasen zu schleppen. "Ich mache jetzt nicht bis Juni Co-Trainer und dann erst den Fußball-Lehrer, da gibt es schon vorher Aufnahmeprüfungen." Was Bierofka damals noch nicht ahnte: Außer den Aufnahmeprüfungen würde im Mai mal wieder ein Abstiegskampf anstehen. Also half er doch noch einmal als Assistent aus. Sein Klub steckte ja wieder in Schwierigkeiten.

Der zweite Beginn

Kurz vor Weihnachten präsentierte Ismaik den neuen Trainer für die Rückrunde - den Portugiesen Vitor Pereira, der vorher bei Fenerbahce Istanbul und Olympiakos Piräus gearbeitet hatte und den Anhängern in einem Wirtshaus zubrüllte: "We go to the top!" Im kurzerhand nach Portugal verlegten Trainingslager, das im neu errichteten Camp von Jose Mourinho veranstaltet wurde, sprach Pereira zur Vorstellung von vielem: dass er tanze, wenn er glücklich sei, und dass es schöner Fußball sei, der ihn glücklich mache; dass er "taktisch, strategisch und sehr emotional" sei; und dass er 1860 in der kommenden Spielzeit in die Bundesliga führen wolle. Zum Abschluss rief er: "I am Vitor Pereira!" Nur von einem sprach er nicht: von einem Kampf um den Klassenverbleib in der aktuellen Spielzeit. Im Trainingslager wurde bekannt, dass Stürmer Sascha Mölders an einer Schambeinentzündung litt und monatelang ausfallen würde. Dafür trainierte der in der kompletten Vorrunde dauerverletzte brasilianische Wunderstürmer Ribamar endlich mit. Weil die Journalisten nicht bei den Trainingseinheiten anwesend sein durften, die Fans hingegen schon, wurden die Allesfahrer zu wichtigen Augenzeugen. Sie berichteten, Ribamar habe sich "gut bewegt", wenngleich er noch etwas "unrund gelaufen" sei. Auf die angekündigten Winterzugänge warteten sie in Troia vergeblich, diese erschienen erst nach der Rückkehr an der Grünwalder Straße und waren Pereira großteils aus Portugal bekannt, wie der senegalesische Innenverteidiger Abdoulaye Ba und der brasilianische Flügelstürmer Amilton.

Das Endspiel

Im ersten Spiel des neuen Jahres wirkten die Winterzugänge noch nicht mit, 1860 gewann dennoch 2:1 gegen Fürth. Pereira erklärte: "Fußball ist nicht nur das Ergebnis. Ich will mehr Qualität haben. Taktisch und technisch war das sicher kein fantastisches Spiel." Statt "Ball verlieren, Ball gewinnen, Ball verlieren, Ball gewinnen", wie es in der zweiten Liga üblich sei, wollte Pereira lieber "Tak-tak-tak", wie er beim stetigen Geheimtraining hinter den Planen brüllte. In den folgenden Spielen wechselten sich in der 3-4-3-Formation mit einigen Neuen in der Startelf Siege und Niederlagen ab. Das Pokalaus beim Drittligisten Sportfreunde Lotte und das 0:2 bei Union Berlin schrieb Investor Ismaik höchstpersönlich den schlechten Plätzen zu, auf dem die neue spielerische Qualität nicht zur Geltung kommen konnte.

Spätestens nach dem 1:2 zu Hause, auf gutem Rasen, gegen den abstiegsbedrohten FC St. Pauli wurde aber klar, dass Sechzig in den Kampf um den Klassenverbleib lange verwickelt bleiben würde. Auf der Tribüne baten Ordner Funktionäre des FC St. Pauli, ihre Plätze zu wechseln, da sie zu nahe an Ismaik jubelten; Geschäftsführer Andreas Rettig referierte hinterher über Auswüchse des Investorenfußballs. Runjaic und Eichin erschienen vor dem Arbeitsgericht, weil Sechzig einfach die Gehaltszahlungen eingestellt hatte.

Im April verliefen die Spiele immer wieder ähnlich: Die Sechziger spielten mittlerweile schön und gut, 3-4-3, tak, tak, tak, verloren aber immer wieder, und hinterher sagte Pereira, dass seine Mannschaft ganz klar besser gewesen sei. Beim 0:1 gegen Braunschweig beschwert sich Gästetrainer Torsten Lieberknecht, Pereira habe ihn auf Portugiesisch Hurensohn genannt, woraufhin eine Sprachtherapeutin und Lippenleserin aus Portugal weitere Schimpfwörter diagnostiziert und der Deutsche Fußball-Bund Ermittlungen aufnimmt. Nach zwei Punkten aus fünf Spielen steckte 1860 ganz tief im Keller - doch dann gelang mit dem 2:1-Sieg in Dresden der Befreiungsschlag. Der im Winter als neuer Wunderstürmer geholte Däne Christian Gytkjaer traf endlich mal das Tor (und nicht das eigene wie beim 0:1 ins Kaiserslautern), während sein im Sommer geholter Wunderstürmer-Kollege Ribamar nach wie vor nicht zum Einsatz kam.

Dass die Mannschaft den Ernst der Situation nicht verstanden habe, konnte man gegen Bochum nicht behaupten, sie spielte wie gelähmt. Nach der Bochumer Führung durch den Ex-Löwen Peniel Mlapa (31.) lief nichts zusammen, dennoch gelang Ba nach einer Flanke von Michael Liendl per Kopf der schnelle Ausgleich (34.). Zwar hatten die Löwen in der Folge die größeren Spielanteile, das Tor schossen die Gäste durch Tom Weilandt (79.).

Na und? Wer allen Ernstes gedacht hat, 1860 München entledigt sich vorzeitig aller Sorgen, kennt diesen Verein nicht. Jetzt stehen die Löwen auf dem Relegationsplatz, alles ist denkbar. Sie sollten das Endspiel in Heidenheim gewinnen.

© SZ vom 15.05.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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