Schießen:Abgezockt bei der Premiere

Lesezeit: 2 min

HSG-Schützin Selina Gschwandtner wird Europameisterin

Von Julian Ignatowitsch, München

Die Atmosphäre dieses Finales der Europameisterschaft erinnerte ein wenig an eine Preisverleihung im Fernsehen. Die Zuschauer saßen ruhig auf ihren Plätzen und verfolgten gespannt, was die Protagonisten im Scheinwerferlicht zeigten. Ein Moderator kommentierte die Ereignisse. Zu gegebener Zeit wurde artig applaudiert - jedes Mal, wenn die überdimensionalen Schussbilder auf der Leinwand aufleuchteten.

Im Schießsport ist fürs Publikum nicht viel Spektakel geboten. Es geht um Ruhe und Präzision. Die genauen Vorgänge sind so kleinteilig und schnell, dass sie mit bloßem Auge gar nicht zu erkennen sind. Die Spannung ist dafür umso höher, denn jedes Zehntel eines Millimeters - so genau ist die Messung - kann über Sieg oder Niederlage entscheiden. Selina Gschwandtner war am Ende des Luftgewehr-Finales in der niederländischen Stadt Arnheim um 2,5 Millimeter die Beste. 2,5 Millimeter, die sie in dieser Disziplin jetzt zur Europameisterin machen. "Es ist unglaublich, ich kann es immer noch gar nicht glauben", sagte Gschwandtner nach dem größten Erfolg in ihrer noch jungen Karriere.

Mit 20 Jahren ist Gschwandtner, die in der Bundesliga für die HSG München schießt und ursprünglich aus Reischach kommt, eine der jüngsten Schützinnen in der Erwachsenenklasse. Dort schießt sie erst seit Anfang dieses Jahres, die Europameisterschaft war ihr erstes internationales Turnier überhaupt bei den Frauen. Das macht ihren Erfolg zu einer kleinen Sensation - und ließ auch die erfahreneren Gegnerinnen staunen. Die zwölf Jahre ältere Barbara Engleder zum Beispiel, zuvor noch, wie übrigens fast auch Gschwandtner, in der Qualifikation gescheitert, sprach ihrer Teamkollegin den "höchsten Respekt" aus. Engleder stürmte nach dem Wettkampf freudestrahlend auf die Bühne, wo Gschwandtner ihren Erfolg gar nicht richtig zu bejubeln wusste. Als ehemalige Welt- und Europameisterin hat Engleder in diesem Bereich natürlich einige Erfahrung mehr.

Bei der Siegerehrung, als Gschwandtner die Goldmedaille umgehängt wurde, reckte sie dann doch noch beide Arme in Richtung Hallendecke. Später stieß sie zusammen mit ihrer gleichaltrigen Mannschaftskameradin Nina-Laura Kreutzer, die ebenso überraschend den dritten Platz belegte, an und feierte mit dem gesamten deutschen Team. "Mein Einstand ist quasi sehr gut geglückt", sagt Gschwandtner schmunzelnd, sich des Understatements bewusst. Doch solche Sätze sind typisch für die 20-Jährige. Auch im Moment des Erfolgs wirkt sie ruhig und gelassen. Bescheiden, aber selbstbewusst. "Nervös war ich sowieso überhaupt nicht", sagt sie, "eigentlich bin ich das nie." Man nimmt ihr das ab. In einem Alter, wo viele nicht wissen, wohin ihr Weg sie führen soll, weiß Gschwandtner genau, was sie will. Sie wohnt in München, studiert im zweiten Semester Luft- und Raumfahrttechnik und ist nebenbei Hochleistungssportlerin. Im Juniorenbereich war sie bereits Welt- und Europameisterin. Ganz unerwartet kommt der Erfolg also nicht, obgleich die Konkurrenz bei den Erwachsenen viel größer ist.

Die Chancen auf die Olympischen Spiele 2016 stehen für Gschwandtner nun frühzeitig sehr gut. Nicht, dass sie als Europameisterin automatisch qualifiziert wäre. Aber durch die Finalteilnahme in einem der großen internationalen Wettkämpfe hat sie sich schon jetzt einen Platz für das Ausscheidungsverfahren im nächsten Jahr reserviert. Bundestrainer Claus-Dieter Roth lässt dann seine erfolgreichsten Kaderschützen die verfügbaren Startplätze ausschießen. "Mein Ziel war es, da dabei zu sein", sagt Selina Gschwandtner, die den Rest der Saison nun mit der Sicherheit bewältigen kann, dass die Spiele in Rio de Janeiro in Reichweite sind. Ob sie bei der weltweit größten Sportveranstaltung aufgeregt wäre? Wohl kaum bei diesem stabilen Nervenkostüm.

© SZ vom 12.03.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: