Judo:Durchhalte­spezialistin

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"Sie kann jeden schlagen", sagt ihr Trainer: Lisa Dollinger könnte in Budapest früh auf eine Favoritin treffen. (Foto: Claus Schunk)

Nach einer Handverletzung stand Lisa Dollingers Karriere auf der Kippe. Nun startet die Judoka vom TSV Großhadern bei der WM. Ein Lohn für ihren starken Willen.

Von Julian Ignatowitsch, Großhadern

Dass Judo ein extrem harter Sport ist, lässt sich bei fast jedem Training beobachten: Die Athleten würgen einander, japsen nach Luft, manchmal kurz vor der Ohnmacht, werfen ihr ganzes Körpergewicht auf den Gegner und knallen ungebremst mit dem Rücken auf den Hallenboden. Kampfsport ist erbarmungslos. Lisa Dollinger weiß das, bei ihr kann man es sogar an der Hand ablesen.

Wenn die 21-jährige Dollinger am Freitag erstmals bei der Weltmeisterschaft in ihrer Gewichtsklasse bis 70 Kilogramm antritt, werden ihr Ring- und kleiner Finger der rechten Hand wieder zusammengebunden sein. Dollinger kämpft seit 2015 quasi nur noch mit vier Fingern. "Die Folge einer Verletzung", erklärt sie. Vor zwei Jahren feierte sie bei der U21-WM mit einer Silbermedaille den größten Erfolg ihrer noch jungen Karriere - und bezahlte dafür mit einem halben Finger. Ein ausgekugeltes Gelenk verheilte nicht wie geplant, der Finger wurde versteift, schließlich entfernten die Ärzte das Gelenk und den oberen Fingerknochen. "Erst der große Erfolg, dann die lange Pause. Das war eine harte Zeit, ich war in einem Loch", erinnert sich Dollinger. Zwischenzeitlich stand sogar ihrer Karriere auf der Kippe. 2017 bei den deutschen Meisterschaften feierte Dollinger ihr Comeback bei den Profis - und wurde auf Anhieb Zweite. Kurz darauf folgte ein zweiter Platz beim European Cup in Sofia. Dollinger war auf der internationalen Bühne angekommen. Aber erneut stoppte sie eine Verletzung: Wegen eines Innenbandanrisses im Knie verpasste sie die Europameisterschaft. Dollinger kämpfte sich zurück, gewann über Siege in der Bundesliga beim TSV Großhadern neues Selbstvertrauen.

Sie erzählt das alles mit einem Lachen. Nur so geht das wohl. Man braucht viel Optimismus und positive Energie, um solche Rückschläge zu verkraften. Die Nominierung zur WM jetzt ist sicher auch eine Belohnung von Bundestrainer Claudiu Pusa für die harte Arbeit und den grenzenlosen Willen, mit dem die 21-Jährige das alles gemeistert hat. Außerdem profitiert Dollinger davon, dass die deutsche Nummer eins und Olympia-Dritte bis 70 Kilo, Laura Vargas Koch, derzeit verletzt ist.

"Ich will zeigen, dass ich mithalten kann", sagt Dollinger über ihre Zielsetzung bei der WM. Sie ist nicht gesetzt, also könnte sie gleich in der ersten Runde auf eine Topfavoritin treffen. Es gehe darum, Erfahrung auf internationalem Spitzenniveau zu sammeln, meint ihr Trainer Lorenz Trautmann. "Sie kann jeden schlagen", sagt er. "Die Frage ist, ob sie das konstant über drei, vier Kämpfe schafft." Dollinger zeichnet sich durch Reaktionsvermögen und Timing auf der Matte aus. In den höheren Gewichtsklassen, wo etwas langsamer gekämpft wird, sind diese Fähigkeiten besonders gefragt. Sie selbst beschreibt sich als "handlungsschnell und kompakt". Im Training kämpft sie oft gegen Männer, in der Bundesliga wird sie häufig auch im Schwergewicht über 70 Kilo eingesetzt. Das schult die Standfestigkeit.

Nach dem Training begutachtet sie ihren kleinen Finger. "Fürs Kämpfen ist er nicht wichtig."

Dollinger absolviert derzeit ihre Ausbildung bei der Bundeswehr. Für Judoka ist das neben der Polizei das einfachste Fördermodell. Die Konkurrenz im deutschen Team ist in ihrer Gewichtsklasse mit Vargas Koch und der deutschen Meisterin Szaundra Diedrich groß. Vielleicht so groß wie nie. Im Hinblick auf die Olympischen Spiele 2020 in Tokio wird es Dollinger schwer haben. "Das Feld ist im Schwergewicht stärker geworden", erklärt Trautmann. Früher waren die Schwergewichtler eher Exoten und der Favoritenkreis klein.

Dollinger ist im Abschlusstraining vor dem Start in Budapest nicht ganz so spritzig. Trautmann schickt sie vorzeitig zum Duschen. Das viele Kämpfen macht irgendwann eben doch müde. "Aber wenn es dann losgeht, ist der Puls hoch und man kommt in den Flow", beschreibt Dollinger das Gefühl im Wettkampf. Mit ihren 21 Jahren hat sie schon mehr erlebt als so mancher Kämpfer in seiner ganzen Karriere. Lisa Dollinger macht daraus kein großes Aufsehen. Sie löst das Tape an ihrer rechten Hand, begutachtet den kleinen Finger. Sie sagt: "Fürs Kämpfen ist er nicht wichtig."

© SZ vom 31.08.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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