Fußball:Der Löwen-Fan, der seinem Verein den Rücken kehrt

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Die Profis des TSV 1860 in der Allianz Arena in Müchen.

(Foto: Philippe Ruiz/imago)

Martin Scherbel will von den Profis des TSV 1860 nichts mehr wissen, er geht lieber ins Grünwalder Stadion zu den Amateuren. Auch vielen anderen sei Sechzig unter Ismaik "einfach zu blöd geworden."

Von Gerhard Fischer

Martin Scherbel hat sich wegen eines Mannes, der ein Fußballspiel verschlafen hat, in den TSV 1860 verliebt. Es war wohl 1992, Scherbel war 15 und wohnte in Passau. "Die Löwen spielten damals beim FC Passau, vor 6000 oder 7000 Zuschauern", erzählt Scherbel, "und auf dem Gras im Stadion, vor der Kurve, saß ein Sechzig-Fan mit Kutte." Pünktlich zum Anpfiff sei der Mann eingeschlafen. "Zwischendrin ist er aufgewacht und hat gefragt, wie es steht." Dann schlief er weiter. Nach dem Spiel erfuhr der Mann, der zuvor wohl ein oder zwei Beruhigungsbierchen genossen hatte, dass 1860 gewonnen hatte, unter anderem hatte der von den Fans zum Fußballgott erhobene Roland Kneißl ein Tor erzielt. "Und da war der Mann mit der Kutte der glücklichste Mensch auf dem Planeten", erzählt Scherbel. "Da dachte ich mir: Wie geil ist das denn!"

Martin Scherbel war nun auch ein Löwe. Einer, der später, mit 21 Jahren, nach München zog und fortan vieles mitmachte bei den Löwen. Aber nicht alles. Neulich kamen 47 000 Zuschauer zum Zweitliga-Spiel zwischen 1860 und dem VfB Stuttgart in die Arena nach Fröttmaning - Scherbel war nicht dabei. Er sagt, die Löwen-Profis seien ihm mittlerweile "wurscht". Er geht lieber ins Grünwalder Stadion, um mit ein paar Hundert Leuten die Regionalliga-Mannschaft des TSV anzuschauen. Oder er fährt zu deren Auswärtsspielen. Kürzlich war er in Schalding bei Passau.

Der Fußballplatz des SV Schalding-Heining liegt auf einer Anhöhe, man kann hinunter schauen auf die Donau, die ruhig dahin fließt und noch mehr Ewigkeit verheißt als der Spruch "Einmal Löwe, immer Löwe". Das Ambiente der Sportanlage erinnert eher an Bezirksliga als an Regionalliga: Es gibt eine kleine Tribüne, aber die meisten Fans stehen einfach um den Platz herum, bloß durch Werbebanden getrennt von den Spielern. Als ein Schaldinger eine Ecke schlampig in den Strafraum tritt, ruft ihm einer zu: "Sog amoi, is des so schwer?"

Martin Scherbel geht nicht mehr zu den Löwen-Profis, weil er die Arena nicht mag und weil ihm missfällt, wie der Verein von Investor Hasan Ismaik gesteuert wird. "Ich will nicht in ein Stadion gehen, das wir mit den Bayern teilen", sagt er, "das viel zu groß ist für uns und das draußen liegt vor der Stadt, am Arsch der Welt"; und eben nicht mittendrin in Giesing, wo das geliebte Grünwalder Stadion steht. Scherbel, Mitglied bei den "Freunden des Sechz'ger-Stadions", hätte gern eine Heimat wie St. Pauli mit dem Millerntor-Stadion, wie Union Berlin mit der Alten Försterei. Pauli spielt nicht mit dem HSV in einer Arena. Union nicht mit Hertha. "Nur wir machen das, und wir sind sogar Mieter bei den Bayern", sagt er. "Das gibt's doch in ganz Europa nicht."

Martin Scherbel 1860-Fan

Lieber zu den Ringern als zu den Fußball-Profis: Martin Scherbel geht nicht in die Arena nach Fröttmaning.

(Foto: Florian Peljak)

Und dann die Sache mit Ismaik: ein Investor, von dem keiner weiß, was er wirklich will, der Mitarbeiter schnell mal feuert, Medien die Akkreditierung entzieht, jubelnde Gäste-Funktionäre aus seinem Blickfeld scheuchen will. "Die Fans der anderen Vereine bemitleiden uns schon", sagt Scherbel, "das ist doch die Höchststrafe." Und Peter Cassalette, der Präsident, lasse Ismaik gewähren. Cassalette, sagt Scherbel, verbringe "die meiste Zeit des Tages im Verdauungstrakt des Investors". Er sagt nicht einfach: Cassalette ist zu devot, zu unterwürfig. Er bemüht sich um drastischere Bilder.

"Ich bin nicht mehr ganz so emotional dabei"

Martin Scherbel ist Informatiker, er arbeitet als Administrator bei einem Software-Unternehmen. Er reflektiert, bevor er redet. Seine Entscheidung, den Löwen-Profis den Rücken zu kehren, ist eine mit dem Kopf und mit dem Bauch. Er weiß, dass er zu einer schrumpfenden Minderheit gehört. "Viele gute Leute, die früher noch ins Grünwalder Stadion zur zweiten Mannschaft gegangen sind, haben keine Lust mehr, überhaupt noch etwas mit diesem Ismaik-Verein zu tun zu haben", sagt er. "Denen ist Sechzig einfach zu blöd geworden." Alleine aus seinem Umfeld kennt er 40 bis 50, insgesamt seien es Hunderte.

Der TSV 1860 II hat das Spiel in Schalding noch gedreht, 3:1 nach 0:1-Rückstand. Martin Scherbel jubelt nicht laut darüber, er nimmt das Ergebnis erfreut zur Kenntnis, genau so wie er jedes Löwen-Tor erfreut zur Kenntnis genommen hat; man merkte das an seinem Lächeln. Mehr war da nicht. "Ich bin nicht mehr ganz so emotional dabei", sagt er. Das Alter spielt sicher eine Rolle, mit bald 40 sagt der Kopf eines vernunftbegabten Menschen, dass der Ausgang eines Regionalliga-Spiels nicht mehr über das Gelingen des gesamten Wochenendes entscheiden kann; es spielt aber auch eine Rolle, dass Martin Scherbel seit Jahren frustriert ist über das, was in seinem Verein passiert. Da würde jeder ein bisschen abstumpfen.

Ringen als Ersatzdroge

An diesem Samstag, 14 Uhr, spielt der TSV 1860 II gegen Bayern Hof. Zu Hause, im Grünwalder Stadion. Gut für Martin Scherbel. Er besucht längst nicht mehr jedes Auswärtsspiel. In dieser Saison war er in Rosenheim, in Unterhaching und in Passau. Das heißt aber nicht, dass er stattdessen zu Hause auf dem Sofa liegt, im Garten arbeitet oder einen Hund Gassi führt. Scherbel geht regelmäßig zur dritten Mannschaft der Löwen - Kreisliga. Oder zu den Ringern des TSV 1860. Das sei eine "gewisse Ersatzdroge", sagt er.

Es ist eben dieser Klub, den er mag; man merkt das auch an Kleinigkeiten, etwa wenn er sagt, er sei am 17. Mai geboren - wie der Verein, der am 17. Mai 1860 gegründet worden ist. Er ist Löwen-Mitglied und geht zu Versammlungen, wo die Basis etwas zu sagen hat. "Ich will das als Mitglied kritisch begleiten", sagt er, "das ist wichtig bei den Allmachtsfantasien unseres Investors." Aber Scherbel weiß auch, dass die meisten Fans mit der Präpotenz des Investors kein Problem haben. "Sie wollen Erfolg", sagt er, "und wenn Ismaik den garantiert, sagen sie: ,Super Ismaik, der hat Geld, wir steigen auf'." Das habe bei Wildmoser schon funktioniert. "Diese Fans prostituieren sich, dass jede Hafennutte neidisch wird."

Martin Scherbel hat die Hoffnung aufgegeben, dass es bei 1860 noch einmal so wird, wie er es sich wünscht. Er hat sich - auch das sagt er offen - zuletzt zwei Jahre lang den Abstieg der Profis gewünscht. "Es würde dann zwar nicht zwangsläufig besser, aber es wäre zumindest eine Chance", sagt Scherbel. Aber heuer würden sie nicht absteigen, glaubt er, und Ismaik werde weiter investieren - und bleiben. "Und wenn Ismaik gehen würde", sagt Martin Scherbel, "dann käme halt der nächste Investor - unsere Profis werden immer fremdbestimmt bleiben."

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