Fußball:Der unglaubliche Werdegang eines frechen Hunds

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Florian Niederlechner aus Hohenlinden hat sich vom leicht übergewichtigen Landesliga-Talent bis in die erste Bundesliga hochgearbeitet. Beim SC Freiburg ist er im Angriff zurzeit erste Wahl

Von Andreas Liebmann, München/Freiburg

Freiburgs Trainer hatte ihn extra noch mal zur Seite genommen, er solle ruhig bleiben, hatte er gemahnt. Doch dann kam der Anpfiff. Florian Niederlechner sprintete nach vorne. In Erwartung eines weiten Balls stieg er gegen den Mainzer Stefan Bell zum Kopfball und fuhr den Ellbogen aus. Acht Sekunden dauerte es bis zum Pfiff, seitdem ist Florian Niederlechner, 26, im Besitz eines Rekords. Noch nie seit Beginn der Datenerfassung gab es in der ersten Fußball-Bundesliga schneller eine gelbe Karte. "Ein Klassiker", sagt er schmunzelnd - wo ihn Coach Christian Streich doch extra gewarnt hatte.

Ausgerechnet Mainz, muss man wohl sagen. Niederlechner, dem mit Freiburg 2016 der Wiederaufstieg in Liga eins gelang, ist eine Mainzer Leihgabe. Falls die Breisgauer auf ihre angeblich 1,5 Millionen Euro teure Kaufoption verzichten, muss der Angreifer aus Hohenlinden (Landkreis Ebersberg) im Sommer zu jenem Klub zurück, bei dem er bisher gar nicht glücklich war; wo ihm in 14 meist kurzen Einsätzen kein Tor gelang. Doch das ist zurzeit weit weg. An diesem Freitag (20.30 Uhr) empfängt der SC Freiburg den FC Bayern. Niederlechner ist heiß. In den beiden letzten Partien vor der Winterpause erzielte er drei Tore, eins auf Schalke, zwei in Ingolstadt.

Natürlich ist der Oberbayer nicht stolz auf seine Bestmarke, er nimmt sie mit Humor. Seine Spielweise sei "eklig", findet Sturmkollege Nils Petersen, doch damit will er Niederlechners "Durchsetzungsvermögen" hervorheben, die "Kopf-durch-die-Wand-Mentalität". Auch Niederlechner selbst sieht sich als "Mentalitätsmonster". In den vergangenen sechseinhalb Jahren hat er dennoch nur 31 gelbe Karten kassiert in 223 Einsätzen, kein einziger Platzverweis war dabei. Etwas anderes ist aber noch viel erstaunlicher an seinem Rekord: Dass es Niederlechner überhaupt in die Bundesliga-Statistik geschafft hat. "Vor sechs Jahren habe ich vor ein paar hundert Zuschauern in Großbardorf gespielt" erinnert er sich. "Ich gewöhne mich dran, aber es gibt schon noch Momente, in denen ich kaum glauben kann, wo ich jetzt stehe."

Es ist nicht lange her, da stand Niederlechner im Büro seines Chefs bei einem Markt Schwabener Maschinenbau-Unternehmen, das ihn nach der Ausbildung zum Industriekaufmann übernommen hatte, und erzählte, er wolle sein Glück als Profifußballer versuchen. "Der Chef hat gesagt, die Tür bleibt für mich offen", erinnert sich Niederlechner dankbar. Er weiß, wie viel Glück er hatte. Hätte die SpVgg Unterhaching damals nicht ihren Hauptsponsor verloren und sich nach preiswerterem Personal umgesehen, wahrscheinlich hätte sich für Niederlechner nie eine Tür in den Profifußball geöffnet. Er wäre nie Drittliga-Meister mit Heidenheim geworden, nie mit Freiburg aufgestiegen. "Ich war ja glücklich in der Bayernliga", sagt er, "ich wollte einfach etwas Geld dazuverdienen und habe auch nicht gelebt wie ein Profi."

Niederlechner wurde in keinem großen Klub ausgebildet, er hat kein Nachwuchsleistungszentrum von innen gesehen, war nie in Gefahr, in ein Jugend-Nationalteam berufen zu werden. Mit 13 schickten ihn die Münchner Löwen weg: zu klein, zu langsam. Aus der Jugend des TSV Ebersberg kam er zum Landesligisten Falke Markt Schwaben, mit etwas Speck auf den Rippen und ungelenkem, schlurfendem Laufstil.

Beim FC Ismaning hat Niederlechner dann erstmals auf sich aufmerksam gemacht. Sein damaliger Trainer Frank Schmöller erinnert sich an das Probetraining, in dem er "einen ganz frechen Hund mit einem guten Auge" sah, dem er aber mitteilte, dass er bis zur Vorbereitung fünf Kilo abnehmen müsse, wenn das etwas werden solle. "Er hat das geschafft, er war schon damals heiß", sagt Schmöller. "Diese Motivation hat er sich erhalten." Ungewöhnliche, "sensationelle Laufwege" führten ihn immer wieder dorthin, wo es gefährlich wurde, fast Thomas-Müller-artig.

Es gibt noch eine andere Anekdote aus dieser Zeit: 21. Mai 2011, gerade war der FC Ismaning Bayernliga-Meister geworden. Trainer Schmöller hatte sich auf dem Rasen durch beherzte Sprints jeder Bierdusche entzogen, doch nun stand er zur Pressekonferenz vor dem Ismaninger Vereinsheim - und über dessen Giebel tauchte ein Gesicht auf. Der Jungspund Niederlechner hatte in seinem Rücken das Satteldach erklommen, um zu Ende zu bringen, was ihm zuvor misslungen war: Er übergoss den Trainer von dort oben hinterrücks mit einer Ladung Bier. Heute, fünfeinhalb Jahre später, sagt Freiburgs Stürmer Nils Petersen über Niederlechner: "Wenn es zweimal nicht geklappt hat, versucht er es eben ein drittes Mal." Mit dieser Einstellung hat er sich von der sechsten bis in die erste Liga emporgearbeitet. Und aus dem "Babyspeck", den Schmöller monierte, hat sich ein sehr athletischer Körper entwickelt.

In dieser Woche, vor dem Duell mit dem FC Bayern, hat der SC Freiburg so viele Interviewanfragen für Niederlechner bekommen, dass er einige abblocken musste. Für Anfragen aus seiner Heimat ist er aber immer zu haben, das wissen sie auch in der Pressestelle. Niederlechner weiß, woher er kommt, er weiß noch, wie er auf roter Erde in Milbertshofen gekickt hat, während viele der heutigen Kollegen eines dieser "Rieseninternate" besucht hätten, in Leipzig, Hoffenheim oder sonstwo. "So einen Werdegang wie meinen wird es kaum noch geben", ist er überzeugt. Er hat sich auch seinen Dialekt nicht abgewöhnt in Freiburg, wo er sich mit seiner Freundin sehr wohl fühlt, wie er sagt, und wo es im Sommer schön warm sei. Ganz im Gegenteil: Als die Sprache auf die kleine bayerische Kolonie kommt, die sich beim SC Freiburg gebildet habe, wo ja auch seine ehemaligen Hachinger Mitspieler Lucas Hufnagel und Janik Haberer unter Vertrag stehen, da protestiert er eifrig: Weder Haberer, einen gebürtigen Allgäuer, noch den hochdeutsch sprechenden Münchner Hufnagel lässt er so wirklich als Bayern durchgehen. "Das ist ja das Problem hier", scherzt er, "dass ich mit keinem richtig bairisch reden kann."

Als "Hachinger Kolonie" lässt er das Trio allerdings gerne gelten. Haberer, 22, kam über Bochum und Hoffenheim im Sommer hierher, er hat seitdem fast jedes Spiel mitgemacht. "Ein super Typ, läuferisch top", wie Niederlechner findet, "und auch noch nicht am Ende seiner Entwicklung." Hufnagel, 22, war schon vor Niederlechner hier, Freiburg hatte seinen Vertrag schon einmal vorzeitig verlängert, doch in dieser Saison bekam er noch keinen Einsatz. "Er hatte etwas Pech mit Verletzungen und Krankheiten", weiß Niederlechner, und auf seiner Position im offensiven Mittelfeld habe er "mit Vincenzo Grifo brutale Konkurrenz". Fußball sei schnelllebig, er dürfe jetzt auf keinen Fall aufstecken. Gerade hat der Drittligist VfR Aalen Interesse an einer Ausleihe Hufnagels bekundet.

Niederlechner ist dankbar für seine Zeit bei der SpVgg Unterhaching. "Man muss unterstreichen, was für eine unfassbar gute Arbeit Manni Schwabl dort macht", sagt er. "Ich hoffe, dass das dieses Jahr belohnt wird." Nach dem Durchbruch in Heidenheim unter Frank Schmidt und einem frustrierenden Halbjahr in Mainz ging Niederlechner im vorigen Winter nach Freiburg. Die Rückkehr in Liga zwei tat ihm gut. Acht Tore erzielte er dort, Streich habe ihn stark geredet. "Der Trainer steht hinter mir, wir haben ein gutes Verhältnis", sagt Niederlechner, "ich versuche immer alles rauszuhauen, und ich glaube, das gefällt ihm."

Umso seltsamer begann diese Erstligasaison. Wieder mit Ladehemmung. Fast immer lief Niederlechner auf, während der ehemalige Bayern-Stürmer Petersen nur auf der Bank saß - doch nicht Niederlechner traf, sondern der Joker Petersen. "Da denkst du schon: Das gibt's doch nicht! Du werkelst, triffst vielleicht den Pfosten, und er kommt rein und macht sofort das Tor. Aber diese Qualität hat er halt." Erst in seiner 19. Erstligapartie gelang auch Niederlechner sein erstes Tor. Inzwischen treffen beide, die Kollegen verstehen sich gut, ihr Jobsharing bewährt sich. "Er ist der Erste, der kommt, um zu gratulieren", sagt Niederlechner, "er gibt mir immer wieder Tipps. Das ist etwas ganz Besonderes im Profifußball." Petersen, 28, sei als ehemaliger Bayern-Stürmer einer, zu dem er früher schon aufgeblickt habe. Am Tag von Petersens Erstligadebüt im Mai 2009 erzielte der nur zwei Jahre jüngere Niederlechner übrigens ein Tor per Flugkopfball - zum 4:0 für Markt Schwaben gegen Pipinsried.

© SZ vom 20.01.2017 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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