Blindenfußball:Neue Löwen

Lesezeit: 4 min

"Voy!" - Ich komme: Ramon Pryssok (links) ist Trainer und Kapitän der Löwen-Blindenmannschaft. Will er den Ball behalten, ruft er "Mausi". (Foto: Annalena Pryssok/oh)

Seit Mai hat der TSV 1860 München eine Mannschaft in der Blindenfußball-Bundesliga. Ein Trainingsbesuch

Von Johannes Kirchmeier, München

Ramon Pryssok steht in der Mitte eines Kunstrasenfeldes, über das ein kalter Wind zieht. Pryssok, dunkler Vollbart, Gel in den Haaren, 1,60 Meter klein, hält einen Fußball in seinen Händen, den er federnd auf und ab bewegt. Um ihn herum laufen vier Männer in Sportklamotten. Das mag eigenartig von weitem aussehen. Von nahem wirkt es noch eigenartiger: Pryssoks Fußball ist kein handelsüblicher, er rasselt laut. Der Mittelkreis, in dem der 26-Jährige steht, ist auch kein üblicher Mittelkreis, sondern ein in weißer Farbe in den blauen Kunstrasen getupftes Achteck, in dessen Mitte ein Löwe Zunge und Tatzen ausfährt - ein Mittellöwe also. Die Dauerläufer rufen dauernd: "Voy".

Voy, das ist Spanisch und heißt: "Ich komme". Im Blindenfußball dient es zur Verständigung auf dem Feld. Wenn ein Spieler dem rasselnden Ball drei Meter nahe kommt, muss er es rufen, andernfalls pfeift der Schiedsrichter ein Foul. "Voy ist kurz, prägnant und gut", sagt Pryssok. "Ich versuche es in alle Übungen einzubauen." Er ist Trainer, Kapitän und Organisationschef des Blindenfußball-Teams des TSV 1860 München. Seit Mai tritt sein Team in der Bundesliga an. Beim Debüt in Gelsenkirchen schaffte es ein 4:4 gegen Viktoria Berlin, und damit den ersten von sieben Punkten, die Pryssok fordert. Am Sonntag trifft es am zweiten Spieltag in Stuttgart auf den MTV Stuttgart. Die Teams treten mit vier sehbehinderten Spielern und einem sehenden Torwart an.

Pryssok öffnet auf dem Spielfeld seine Trainingsjacke und legt sie im Tor ab. Jetzt kickt der Coach mit. Als Einziger tritt er in weiß-blauer TSV-Spielkleidung an, mit der Spielmachernummer "10". Er zieht sich eine schwarze Augenbinde über den Kopf, schnappt sich den Ball, bespricht und, ja, dirigiert die Übung: Pryssok wird mit einem Mitspieler auf eine Zwei-Mann-Abwehr zulaufen und versuchen, Tore zu erzielen. Schon geht's los: Der Coach ruft "Mausi", dribbelt an den Verteidigern vorbei. Ein paar Meter vorm Tor zieht er ab - und schlägt ein Luftloch. Er rutscht aus und fällt hin. "Ich versuche immer, aus dem Lauf draufzuzwiebeln", sagt er. Hier hat er sich den Ball aber zu weit vorgelegt. "Mausi" ist übrigens Pryssoks Codewort, wenn er den Ball selbst behalten will.

Die Übung startet von Neuem, Pryssok stellt sich auf Höhe des Mittellöwen auf. Als er losspurtet, scheppert es heftig, weil der Ball mit Metallkügelchen gefüllt ist. Eines fällt auf: So wie die Eishockeyspieler abwechselnd den Puck mit beiden Seiten ihres Schlägers spielen, so hält der Blindenfußballer Pryssok den Ball. Immer wieder pendelt er zwischen linkem und rechtem Fuß hin und her. Den Ball zu beherrschen lernt er jedem neuen Spieler als erstes.

Sein Torhüter ist der 20-jährige Daniel, der auf Facebook mitbekommen hat, dass die Blindenfußballer einen Keeper suchen. Während er den Ball zu einem Mitspieler kickt, steht Pryssok abseits und erzählt von seinen Kämpfen. Wie alle anderen Kinder ging auch der sehbehinderte Pryssok in Simbach am Inn in die örtliche Schule - bis zur vierten Klasse. Dann sagte der Lehrer: "Das mit der Hauptschule, das wird nichts." Pryssoks Miene verfinstert sich. Er beugt sich nach vorne: "Mir wurde eine adäquate Schulbildung verweigert, obwohl ich Einser und Zweier schrieb." Als Kind konnte er die Situation nicht einordnen, "ich fand das einfach nur unfair". Den Realschulabschluss machte er an einer Sehbehindertenschule. Danach begann er eine Ausbildung zum Physiotherapeuten.

Pryssok sieht etwa zu 20 Prozent, auf einem Smartphone kann er ein App-Symbol erkennen. Sein Gesichtsfeld ist aber so eingeschränkt, dass er das nebenstehende nicht sieht. Blindenfußball spielt er seit acht Jahren, für Chemnitz, Mainz, Dortmund und Würzburg. "Aber ich wollte hier was Eigenes haben." Nachdem sich zwei Jahre lang kein Verein fand, der ihm einen Platz zur Verfügung stellte, nahm ihn 2015 der TSV 1860 auf. Irgendwie fügte es sich ja etwas kitschig: Der Löwe, der für Ausdauer und Mut steht, nahm einen auf, der reichlich Ausdauer brauchte bei der Vereinssuche. Nächstes Jahr will Pryssok einen Bundesliga-Spieltag auf dem TSV-Gelände ausrichten.

Dort passt und chippt er schon jetzt den Mitspielern den Ball zu. Meistens kommt der Ball an, manchmal verschätzt er sich aber. Dann wird es schwierig, denn sobald der Ball liegt, ist Orientierung gefragt. Es rasselt ja nichts mehr. Pryssok vergleicht das mit einem Toilettengang in der Nacht: "Da ist ja auch alles dunkel und trotzdem sollte man wissen, wo die Schüssel liegt." In den Spielen rufen Guides außerhalb des Feldes Hinweise. Dennoch sagt Pryssok: "Ich weiß immer, wo die Jungs und der Ball sind." In München ist er der stärkste Spieler, aber die anderen sind ja auch erst ein Jahr dabei. Sie sollen der Stamm für ein eigenes Team der Löwen sein, noch kicken sie in einer Gemeinschaft mit dem VSV Würzburg. Pryssok hat noch nicht genug Spieler in München. Die Lösung sei dazu da, um Erfahrung zu sammeln: "Sie ist aber nicht optimal, weil ich ein Zusammenspiel fördern will. Das kriegt man nur gemeinsam hin."

Und die Klubs trainieren getrennt. Bevor Pryssok die Einheit beendet, probiert er sich noch im Achtmeterschießen, trifft den Ball aber nicht gut. Der kullert neben das Tor. Angestachelt vom Fehlversuch tritt er noch mal an. Mit dem rechten Fuß steht er neben dem Ball. Er konzentriert sich, holt mit dem linken Fuß aus - und schießt die Kugel genau unterhalb des rechten Lattenkreuzes. Das Netz zischt, die Mitspieler klatschen, Torwart Daniel hat sich keinen Zentimeter bewegt. Sein Trainer fragt nach: "Wo war er?", Daniel erwidert kopfschüttelnd: "Im Kreuzeck." - "Wusst' ich's doch", sagt der lächelnde Ramon Pryssok.

© SZ vom 04.06.2016 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
Zur SZ-Startseite

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: