Spitzen-Gymnastin in München:Rabatt von der Schwerkraft

Jana Lukjanova vom TV Augsburg war Spitzensportlerin und ist weit gereist, um nur noch für sich selbst zu tanzen.

Katrin Freiburghaus

Wer schon einmal an einem Fjord unterwegs war, weiß, dass Entfernung etwas Relatives ist: Über das Wasser sieht man, welche Farbe das Fahrrad auf der anderen Seite hat. Bis man dort angekommen ist, kann es aber noch fünf Stunden dauern. So ähnlich ging es Jana Lukjanova vor zwei Jahren. Die heute 21-Jährige war auf der Suche nach sich selbst. Und obwohl man sich eigentlich immer dabei hat, musste sie 1500 Kilometer von ihrer estnischen Heimat entfernt damit beginnen, sich kennenzulernen. Im Ausland, ohne Hochleistungssport.

Spitzen-Gymnastin in München: Lukjanova

Lukjanova

(Foto: ACHIM SCHAEFER)

Lukjanova ist Rhythmische Sportgymnastin. Sie war estnische Meisterin, der Sport dominierte seit dem fünften Geburtstag ihr Leben. Sie erzählt von Reisen, Lampenfieber, Stolz und großer Unterstützung. Es war keine schlechte Zeit und man hat nicht den Eindruck, sie sei zu irgendetwas gezwungen worden. Sie erzählt aber auch von der Doppelbelastung durch Schule und Sport, von großem Druck, von Müdigkeit und dem Gefühl, "einfach raus" zu müssen. Sie sagt das ohne Zorn. Das Verhältnis zu den Eltern ist prächtig, nur wird der Mensch eben irgendwann erwachsen. "Es wurde immer alles für mich geplant. Das war unheimlich bequem, aber ich kam da nicht raus", sagt Lukjanova. Dann guckt sie sehr ernst und sagt: "Ich wollte mir beweisen, dass ich etwas alleine kann."

Rhythmische Sportgymnastik ist ein Sport, den kaum jemand über 25 auf hohem Niveau betreibt. "Die Beweglichkeit verschwindet und man ist physisch nicht mehr so geeignet", sagt Lukjanova. Wer sich von den Anforderungen an die Körperbeherrschung überzeugen möchte, dem sei folgende Übung zu Testzwecken empfohlen: Man setze sich im Spagat auf den Boden, lege einen Ball auf den hinteren Oberschenkel und beuge den Kopf so weit nach hinten, dass man den Ball zwischen Bein und Kopf fest einklemmen kann. Lukjanova turnt diese Verrenkung als wäre sie nichts - mit dem Unterschied, dass sie dabei auch noch auf dem hinteren Bein steht und den Spagat aus eigener Kraft hält.

Sie hätte Potential für Olympia gehabt. Sie denkt ab und zu noch daran, aber der Preis - drei Jahre Training für eine vage Chance - war ihr zu hoch. Die Qualifikation für London hängt an der Weltmeisterschaft 2012. Und selbst wenn es für Olympia gereicht hätte, wäre es für sie um Platz 20 gegangen. "Ich musste das rational bewerten", sagt sie.

Das Abi schaffte sie, obwohl sie zwischen 16 und 19 als estnische Spitzengymnastin durch die Welt geflogen und oft direkt vom Wettkampf zur Prüfung gefahren war. Dass von heute auf morgen alles vorbei sein sollte, war für Lukjanovas Umfeld noch schwerer zu verdauen als für sie selbst. Sie fürchtete um ihre Standhaftigkeit und zog sicherheitshalber einen dicken Schlussstrich: Sie flog ohne Sprachkenntnisse nach Deutschland, zog nach Augsburg und begann ein neues Leben. Ein Leben, in dem niemand mehr nörgelte, wenn sie 300 Gramm zugenommen hatte. Ein Leben, in dem sie nicht mehr vier Stunden täglich trainieren musste. Aber auch ein Leben, in dem ihr die Rhythmische Sportgymnastik bald fehlte.

Sie fing beim TV Augsburg wieder an. Diesmal nicht für Estland, sondern für sich. Sie trainiert vier- bis fünfmal wöchentlich und gewann zuletzt zweimal hintereinander den Deutschland-Cup. Es ist der höchste Wettbewerb, an dem sie in Deutschland teilnehmen darf - der Weg in die Leistungsklasse bleibt ihr versperrt, weil sie keinen deutschen Pass besitzt. "Die Einbürgerung würde lange dauern, ich bin keine Ausnahme", sagt sie. Sie wäre dann 22 oder 23. "Da hat man keine Perspektive mehr", sagt sie. Mit 21 bereitet sie sich auf ihre Rente von der Gymnastik vor.

Inzwischen lebt sie in München und studiert im dritten Semester VWL. Auf Deutsch. "Die Hölle" sei das anfangs gewesen. Das Wissen für ihre Klausuren las sie sich an, weil sie in der Vorlesung kein Wort verstand. Mittlerweile ist ihr Deutsch so gut, dass sie die Probleme ihrer Kommilitonen teilt. Ein paar ganz eigene hat sie aber noch immer.

Vor dem Deutschland-Cup trainierte sie um Mitternacht allein in der Turnhalle. "Romantisch", fand sie das, doch ob sie es noch einmal tun wird, weiß sie nicht. Sie gibt zu, dass ihr die Motivation zum Training immer schwerer fällt. Sie denkt ans Aufhören, wirklich trennen kann sie sich von ihrem Sport aber nicht.

Jeder kann sehen, wie eng sie mit ihm verbunden ist. Man erkennt Lukjanova an der Weise, wie sie wartet. Wie sie den linken Fuß perfekt nach außen dreht und streckt. So warten nur Ballerinen und Sportgymnasten. Sie läuft normal, aber es sieht immer ein bisschen so aus, als falle es ihr leichter. Als hätte sie mit der Schwerkraft einen kleinen Rabatt ausgehandelt. Lukjanova startet weiter für Augsburg und trainiert den Nachwuchs. Beruflich will sie sich umorientieren. Es gibt noch keinen Plan, aber darum geht es auch gar nicht. Wichtig ist nicht, was sie entscheidet. Wichtig ist, dass sie es ganz allein tut.

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