Skurriles Hobby:120 000 Tote im Regal

Sterbebildsammler

In den vielen Stunden, in denen sich Werner Ollig in seinem Archiv aufhält, dürfte es sehr ruhig sein.

(Foto: Günther Reger)

Werner Ollig sammelt Sterbebilder - er hat auch welche von Strauß, Kennedy und Mussolini.

Von Christian Hufnagel, Fürstenfeldbruck

Das enge Zimmer verrät auf den ersten Blick nicht, dass es ein ungewöhnliches Archiv birgt und der Besucher vielleicht einen Schauer auf dem Rücken verspüren müsste. Behagliche Brauntöne, an den Wänden naturalistische Landschaftsgemälde, ein beige-farbenes Sofa, Regale bis zur Decke, vollgestellt mit Aktenordnern. "Meinen Gefechtsstand" nennt der ehemalige Berufssoldat und Fluglehrer bei der Bundeswehr scherzhaft sein Refugium, das freilich wenig mit martialischen Assoziationen zu tun hat, nicht mal in der übertragenen Bedeutung von atemloser Hektik und permanenter Action.

In den vielen Stunden, in denen sich Werner Ollig dort aufhält, dürfte es sehr ruhig sein und seine Beschäftigung einen ganz gegensätzlichen Charakter annehmen: Innere Einkehr und Nachdenklichkeit mag diesen kleinen Raum prägen. Denn dort geht der Rentner seit Jahrzehnten einem ausgefallenen Hobby nach: Andere Leute häufen Briefmarken oder Münzen an, der 82-jährige Fürstenfeldbrucker sammelt Sterbebilder.

Wie bei den Philatelisten kann man auch papierene Epitaphe in größerer Stückzahl erwerben. 1000 Stück habe er gerade bekommen, erzählt Ollig und holt einen schmalen Karton hervor, in dem die Sammelobjekte lagern, die er noch nach Namen ordnen muss. Das Päckchen hat er aus einer Wohnungsauflösung erhalten, für 35 Euro. Der geringe Preis macht schon deutlich, dass dieses Hobby nicht das Ziel hat, eine Wertanlage zu schaffen. Auch wenn es offenbar Exponate gibt, nach denen gesucht wird und die durchaus teuer kommen: "Das Militärische ist im Moment ein Hype", sagt der Fürstenfeldbrucker, "für einen Ritterkreuzträger muss man schon mal 120 Euro hinlegen." Gleichwohl das alles ein wenig wie Briefmarkensammeln anmutet, gibt es weder einen Katalog noch Tauschabende.

Olligs Leidenschaft verfolgt einen anderen Sinn: "Ich will die Sterbebilder der Nachwelt erhalten. Viel zu oft werden sie bei Haushaltsauflösungen achtlos entsorgt." Und unter der Internetadresse www.genealogy.net/privat/ollig/ bietet er für Menschen, die nach dieser Erinnerung an einen Verwandten oder Bekannten suchen, eine Plattform an. Wer fündig wird, dem schickt der Rentner eine Kopie zu.

Dass die Anfrage erfolgreich sein wird, kann durchaus sein, auch wenn dieses Sammelfeld natürlich so unendlich wie das Werden und Sterben der Menschen selbst ist. So ist die Wohnkammer so etwas wie eine gigantische Gedenkstätte: In den vielen Aktenordnern und Karteikästen sind nicht weniger als 120 000 Sterbebilder abgeheftet und einsortiert, fein säuberlich nach dem Alphabet der Namen der Verstorbenen geordnet. Wer sich da durchblättert, der kann nicht nur die gestalterische Entwicklung dieses aus dem katholischen Glauben heraus entsprungenen Brauches verfolgen, sondern der wird zugleich auf eine Zeitreise durch vergangene Jahrhunderte mitgenommen. Neben den Sterbebildern aus dem ganz privaten Bereich verfügt Ollig auch über viele von bedeutenden Persönlichkeiten der Geschichte.

Sterbebilder Werner Ollig

Requiescat in pace - auch ein Sterbebild von König Ludwig II. hat Werner Ollig in seiner Sammlung.

(Foto: Günther Reger)

"Zur frommen Erinnerung im Gebete an unsere allgeliebte Monarchin", heißt es unter dem Profilbild der österreichischen Kaiserin Elisabeth, die am 10. September 1898 gestorben ist. Weitere adelige Häupter zieren ebenso die Sammlung wie Päpste und Kardinäle. Franz Josef Strauß, Kurt Waldheim, John Fitzgerald Kennedy oder auch Benito Mussolini gehören zu der Sparte "Bekannte Personen aus der Politik"; Walter Sedlmayr, Georg Thomalla und Karl Tischlinger zu jener "aus Film und Fernsehen"; Rolf Heyne, Wastl Fanderl und Aenne Burda waren Erscheinungen in "Wirtschaft, Kunst und Gesellschaft".

An traurige Ereignisse wird man durch Menschen erinnert, die bei der Flugzeugkatastrophe am 3. Dezember 1972 in Teneriffa, dem Zugunglück bei Eschede am 3. Juni 1998 oder dem Seilbahnunglück von Kaprun am 11.11.2000 aus dem Leben gerissen worden sind. Und nicht weniger bedrückend ist das Sterbebild des Landwirts Wolfgang Meier - "gestorben am 22.2.1945 im Konzentrationslager Dachau".

Sterbebilder Werner Ollig

Auch in der Sammlung: Kaiserin Elisabeth.

(Foto: Günther Reger)

Namen und Gesichter blättern an einem vorbei, in den privaten Schicksalen leuchtet vergessene Zeitgeschichte wieder auf. Besonders und sehr konzentriert vor allem jene dunkle Epoche, die so etwas wie die Geburtsstunde der heutigen Form der einstigen Totenzettel aus dem frühen 17. Jahrhundert ist: mit Erinnerungsbildchen, Fürbitte oder Sinnspruch. Im Ersten Weltkrieg hätten die Angehörigen angefangen, Bilder von den Gefallenen abzudrucken, weil die meisten ja wirklich im Feld geblieben seien und nicht in der Heimat hätten beerdigt werden können, erzählt Ollig, der die Geschichte seines Sammelobjektes auch in einem Buch zusammengetragen hat: "Der Totenzettel im Wandel der Zeit", erschienen im Selbstverlag.

Eine Tragödie aus der eigenen Verwandtschaft im Ersten Weltkrieg war es auch, die den Fürstenfeldbrucker zu seinem Hobby gebracht hat. Er erforschte damals seine Ahnengalerie und stieß in einem Sammelband der "Westdeutschen Gesellschaft für Familienkunde" auf den Totenzettel eines Onkels, der als Pilot in den Vogesen abgeschossen wurde. Das Kölner Stadtarchiv, das die "80 000 Totenzettel aus Rheinischen Sammlungen" beherbergt, wollte seiner Bitte nach Übersendung einer Kopie aber nicht nachkommen: Dies sei aus "konservatorischen Gründen nicht möglich", lautete die Antwort.

Um anderen genealogisch interessierten Menschen "eine solche Enttäuschung zu ersparen", hat Ollig schließlich selbst mit dem Sammeln angefangen. Verwandte und Bekannte versorgen ihn seither, er selbst geht auf Flohmärkten und in Antiquitätenläden auf die Suche und wird oft in Gebets- und Gesangsbüchern fündig. Eine Leidenschaft, die sich nie erschöpft: "Es hat ja kein Ende", sagt der 82-Jährige, was aber genauso wenig auf seine Stimmung drückt wie die permanente Berührung mit der Vergänglichkeit: "Sammler sind glückliche Menschen", sagt er. Und da spielt es offenbar keine Rolle, ob das Objekt der Begierde Briefmarken sind - oder Sterbebilder.

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