Siemens in München:Ein Weltkonzern verliert seine Wurzeln

Siemens in München: Die Münchner Theatinerstraße, um 1900: 1106 Straßenlaternen hängte Siemens 1895 in der Stadt auf, die ersten hier.

Die Münchner Theatinerstraße, um 1900: 1106 Straßenlaternen hängte Siemens 1895 in der Stadt auf, die ersten hier.

(Foto: Siemens)

München war einst stolz auf Siemens, seinen Weltkonzern. Doch seit das Unternehmen an seinem Stammsitz radikal schrumpft, hat sich das Verhältnis zur Stadt verändert. Die Geschichte einer Entfremdung.

Von Katja Riedel

Der erste Jahresumsatz ließ reichlich Luft nach oben: 1346 Mark und fünf Pfennig setzte Siemens im Jahr 1890 in München um. Im selben Jahr öffnete der spätere Weltkonzern sein Vertriebsbüro an der Isar. Einzige Mitarbeiter waren Adalbert Planck, der Bruder des Nobelpreisträgers, nebst Sekretärin. An der Galeriestraße 15a bezogen sie Quartier. Ihr erster Kunde war von adeligem Geblüt, aber ging einer weltlichen Tätigkeit als Augenarzt nach. Für seine Praxis bestellte Herzog Karl Theodor von Bayern bei Siemens und Halske eine fahrbare elektrische Beleuchtungsanlage.

1895 installierten die immerhin schon sieben Mitarbeiter 1106 elektrische Straßenlampen in der Stadt, die ersten in der Theatinerstraße. Um 1900 herum arbeiteten 380 Mitarbeiter für Siemens in München. Die Firma wuchs fortan: in die Welt hinaus, vor allem aber in Deutschland und in München. Dies galt sehr lange - inzwischen allerdings schon länger nicht mehr.

München war seit Februar 1949 Zentrale und wichtigster Standort zugleich für Siemens. Zum Höhepunkt der Siemens-Ära waren 47 000 Menschen in der Stadt für das Unternehmen tätig. An exakte Zahlen zu kommen, ist schwierig, auch aufgrund der vielen Käufe, Verkäufe und Umbauten, die zur Konzerngeschichte gehören. 1990 addierte man in München, dass innerhalb des Münchner Burgfriedens 1,5 Millionen Quadratmeter Siemens zu finden seien. Vor den Toren der Stadt waren es noch einmal 500 000.

Siemens war größter Arbeitgeber in München

München war stolz auf jene Firma, die man schlicht, als Synonym, den Weltkonzern nannte. Siemens war größter Arbeitgeber wie Steuerzahler der Stadt, und wenn diese für beide heilige Allianz in Gefahr war, etwa während des Schmiergeldskandals um das Klärwerk in Dietersheim Anfang der Neunzigerjahre, dann musste der damalige Vorstandschef Georg Kaske persönlich bei Oberbürgermeister Georg Kronawitter antreten. Stadt und Konzern unterhielten zahlreiche Geschäftsbeziehungen. Die Lokalzeitungen verfolgten jede Wendung bei ihrem Konzern, alles war eine Meldung wert, vom Preisausschreiben bis zu Auslandsaktivitäten.

Doch dann kam die Wende. Sie vollzog sich nicht plötzlich, sondern schleichend, aber einschneidend. Spätestens Mitte der Neunzigerjahre setzte jener Prozess ein, der Stadt und Konzern entfremdete, der Siemens zu einem, nicht mehr zu dem Münchner Unternehmen werden ließ.

Viele düstere Prognosen von damals haben sich seitdem bewahrheitet: Zum Beispiel die Proteste gegen einen "Ausverkauf an der Balanstraße", ein "Aus in Raten" für die dortigen Produktionsstandorte, in denen Chips zunächst noch von 8000 Mitarbeitern produziert wurden. Später schrumpfte die Zahl auf 4000 Menschen und schließlich produzierte dort niemand mehr Chips. Noch radikaler war der Niedergang in der Hofmannstraße, wo das Haltestellenschild "Siemenswerke" heute geradezu verstören mag. Hier, wo nun auf einstiger Industriefläche Platz zum Wohnen entsteht.

Schrumpfungsprozess in München

Es gab und gibt einen Schrumpfungsprozess, aber auch eine Akzentverschiebung. In 190 Ländern ist Siemens aktuell aktiv. In München gibt es längst nicht mehr, wie noch Ende der Siebzigerjahre, sieben große Produktionsstandorte mit knapp 40 000 Mitarbeitern. Gerade einmal 9000 Menschen arbeiten noch für Siemens in München. 9000 heute, fast 50 000 einst. Sicher, einige weitere tausend Beschäftigte arbeiten bei jenen Sparten und Töchtern, die Siemens verkauft oder in die Selbständigkeit entlassen hat. Bei Osram zum Beispiel.

Neue Konzernzentrale bis 2016

Der Leuchtenhersteller, den Siemens vergangenen Sommer an die Börse brachte und an dem man noch 20 Prozent hält, verkündete kürzlich allerdings "weitere Kapazitätsanpassungen im traditionellen Lichtgeschäft", Stellenabbau also. Man suche nach neuen Geschäftsfeldern, habe Asien im Visier, sagte Osram-Chef Wolfgang Dehen der SZ. Im kommenden Jahr wird er sein Konzept "Osram 2019" vorstellen. Wie viel München, wie viel Bayern darin stecken wird, ist völlig ungewiss.

"Auch wenn der Standort München heute nicht mehr so stark ist wie früher, so ist unsere neue Firmenzentrale ein starkes Bekenntnis zum Standort München und Bayern", heißt es bei Siemens. In der Tat entsteht in der Nachbarschaft des Siemens-Forums, wo schon Anfang der Neunzigerjahre der New Yorker Stararchitekt Richard Meier "urbane Lebensqualität" statt "hermetischer Abriegelung" entstehen ließ (so diskutierte es damals der Stadtrat), bis 2016 eine neue Konzernzentrale.

Tatsächlich nehmen andere Standorte mittlerweile eine zentralere Rolle im weltweiten Siemens-System ein: auch in Deutschland sind in Erlangen und Berlin mehr Jobs und Unternehmensteile angesiedelt. In München sitzt nur einer der vier Sektoren, in die Siemens eingeteilt ist - noch dazu jener, der als der unwichtigste gilt, "Infrastructure & Cities" genannt. Nun steht ein neuerlicher Konzernumbau unter Joe Kaeser an. Und es drohen weitere Verschiebungen.

Wie es mit den wenigen Münchner Überbleibseln weitergehen wird? Mit dem, was nicht Verwaltung ist, nicht Forschung und Entwicklung im früher "Datasibirsk" genannten Neuperlach, der einstigen Stadt in der Stadt? Computer werden hier ohnehin nicht mehr gebaut. Siemens Nixdorf ist Geschichte. Und auch aus dem Gemeinschaftsunternehmen mit Fujitsu ist Siemens 2008 raus.

Zahlreichen Sparrunden und Entlassungswellen

Die Zukunft von anderen Unternehmensteilen ist ungewiss: Während des Bieterwettstreits um den französischen Konzern Alstom haben die IG Metall und der Betriebsrat vor einem Aus im Lok-Werk in Allach gewarnt, einer letzten Siemens-Produktionsstätte der Stadt. Zur Debatte stand ein Tauschgeschäft mit den Franzosen, am Ende sollte die Bahnsparte in Frankreich gebündelt werden. Im aktuellen Übernahmeangebot ist dieser Punkt ausgeklammert, offenbar soll es aber in einem zweiten Schritt doch Gespräche geben.

Bei einer anderen Tochter, die Siemens noch zu 49 Prozent gehört, liegt Konkreteres auf dem Tisch: Es geht um Unify, ehemals Siemens Enterprise Communications. Unify bietet Telefonlösungen für Unternehmen. Künftig soll es um mehr gehen, um komplexe Softwarelösungen, die den stark technisch geprägten Büroalltag organisieren.

Weiterer Stellenabbau droht München

"Verschlankung" nennt Unify das, was Gewerkschaften und Betriebsrat als "Kahlschlag" empfinden: 3800 der weltweit noch 7000 (einst 17 500) Stellen sollen wegfallen. Die Hälfte in Zentraleuropa. Und besonders viele in München, wo eine Auflösung der Zentrale im Raum steht.

2005 ist Siemens aus dem Handygeschäft ausgestiegen, 2008 verkaufte man auch die Schnurlostelefone, die heutige Firma Gigaset. Wie Unify gehört sie zu den wenigen Überresten der Hofmannstraße. Ganz ausgestiegen ist Siemens aus der Netzwerksparte, die man zuletzt gemeinsam mit dem finnischen Handyhersteller Nokia betrieb - als Nokia Siemens Networks (NSN).

Hier ist Siemens nach zahlreichen Sparrunden und Entlassungswellen draußen. Noch hat NSN einen Sitz an der St. Martin-Straße, doch die Akzente haben sich stark verschoben. Ins finnische Espo.

1847 wurde Siemens als Telegrafenhersteller gegründet - mit Kommunikation hat das Unternehmen heute kaum noch zu tun.

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