Sendling/ Schwabing:Bärbels große Liebe

Gerhard Weiß lässt nach zehnjähriger Pause die Sendlinger Mordweihnacht als Figurentheaterstück wieder aufleben - und sucht Mitstreiter

Von Astrid Benölken, Sendling/ Schwabing

Durch das Dachfenster fällt blasses Winterlicht auf den Mordschauplatz. Gerhard Weiß schaut sinnierend auf den rot bemalten Obstkorb und die Holzfiguren und zieht an seinem Zigarillo. Scharfer Zigarettenrauch hängt in der Luft. Im Schlafzimmer des 70-Jährigen finden oft Opernaufführungen im Miniaturformat statt, die Wohnung des Schwabingers ist wie ein Theater, mit Foyer statt Wohnzimmer und Aufführungen zwischen Bett und Bücherregalen. Nun sind Mord und Totschlag mit eingezogen, im Schlafzimmer steht die Probebühne für "Die unergetzliche Tragödie von Liebe, Treue, Verrat und Todt", Weiß selbstverfasstem Stück zur Sendlinger Mordweihnacht, das der Schwabinger nach zehn Jahren Pause wieder zeigt.

Sendling/ Schwabing: Beobachter am Bühnenrand: Der "Passauer" behält das blutige Geschehen in Gerhard Weiß' historischem Theaterstück im Blick.

Beobachter am Bühnenrand: Der "Passauer" behält das blutige Geschehen in Gerhard Weiß' historischem Theaterstück im Blick.

(Foto: Robert Haas)

Monatelang hatte Weiß 2005 in telefonbuchdicken Wälzern und historischen Dokumenten recherchiert, bevor er zum 300. Jahrestag der Schlacht sein historisches Figurentheaterstück aufführte. Um das Schicksal der mehr als tausend getöteten Bauern erfahrbar zu machen, die sich gegen die schlechten Zustände unter österreichischer Besatzung wehrten, griff er zu einem dramaturgischen Kniff und erfand eine Liebesgeschichte zwischen der Wirtstochter Bärbel und dem österreichischen Husaren Palfy. Die Kaiserlichen erfuhren 1705 schon vor dem Marsch auf München am Heiligen Abend von dem Komplott, waren zwar in der Minderzahl, aber gewarnt und gerüstet. Am Ende starben nach den Recherchen von Weiß mehr als 1000 Bauern - und nur zwei der Besatzer. Heute vermag niemand mehr zu sagen, wer die Aufständigen damals verriet. In Weiß Version ist es die verliebte Bärbel, die ihren Palfy retten möchte.

Sendling/ Schwabing: Theatermann Gerhard Weiß hat die Puppen vor zehn Jahren entworfen.

Theatermann Gerhard Weiß hat die Puppen vor zehn Jahren entworfen.

(Foto: Robert Haas)

Kurz vor Weihnachten hat Gerhard Weiß die Pappkartons mit Palfy, Bärbel und den anderen Puppen vom Dachboden geholt, seitdem laufen die Proben. Die zehn Jahre auf dem Speicher haben ihre Spuren hinterlassen. Weiß tippt auf einen Zettel, der eng mit Bleistift beschrieben ist: "Meine Arbeit für heute." Die Fahne braucht noch einen Gegenzug, die Tischdecken müssen angeklebt werden, an der Vorhangstange fehlt eine Schraube. Mit einem leisen Ächzen sinkt der Passauer, ein Mann im blau-grauen Puffärmel-Gewand, am rechten Bühnenrand auf sein Fernrohr. "Und die Gummizüge sind auch spröde geworden", kommentiert Weiß und richtet die Holzfigur wieder auf. Der Passauer ist eine der wenigen historisch verbürgten Personen der Sendlinger Mordweihnacht. Er sei damals der einzige Studierte in der Schar der aufgebrachten Bauern gewesen, erzählt Weiß. Der Passauer führte Wort, schürte den Zorn der Bauern mit seinen Reden, "nur als es ums Kämpfen ging, versteckte er sich am heutigen Gasteig und beobachtete mit seinem Fernrohr das Gemetzel von weitem." Nach ihm und nicht etwa der Stadt in Niederbayern ist die Passauerstraße in Sendling benannt. Es gibt viele solcher Straßen und Plätze in Sendling, denen der Bauernaufstand in den Namen geschrieben ist. Herauslesen können das allerdings meist nur diejenigen, die sowieso schon Bescheid wissen. "Es ist deshalb wichtig, die Geschichte vor Ort zu verankern und lebendig werden zu lassen", sagt Gerhard Weiß. An Heiligabend erinnert ein Fackelzug zum Denkmal an den kurzen Aufstand, anlässlich des 310-jährigen Jubiläums gedachte auch Kardinal Marx der historischen Gräueltat. Doch Gerhard Weiß ist das nicht genug. Er würde sich wünschen, dass sein Stück gelebter Geschichte regelmäßig aufgeführt wird - aber langfristig nicht von ihm, sondern von den Sendlingern selbst. Bei den Stadtteilwochen im vergangenen Sommer informierte er deshalb mit einem Stand. Das Plakat für zwei Beispielvorstellungen, die einen ersten Eindruck vom Stück vermitteln sollen, hängt seit Wochen in Sendlinger Läden aus - und an der roten Dachschräge in Weiß' "Foyer", direkt neben dem bei einer Bombenentschärfung zu einem Plastikfetzen zusammengeschmolzenen Banner der legendären Kneipe "Schwabinger 7" und einem blauen Aufkleber. "Rauchen erlaubt" steht darauf.

Sendling/ Schwabing: Blick unter die Kulissen: Die Puppenspieler führen von Hockern aus die Figuren.

Blick unter die Kulissen: Die Puppenspieler führen von Hockern aus die Figuren.

(Foto: Robert Haas)

Weiß lässt das Feuerzeug schnappen und zündet sich den nächsten Zigarillo an. "Eine Blaupause der Uraufführung werden wir nicht auf die Bühne bringen", sagt er und nimmt einen Zug. Vor zehn Jahren kam die Musik noch vom Band, heute spielen zwei Musikerinnen live vor Publikum. Damals kam das Bühnenbild von einem minutiös programmierten Diaprojektor, heute surrt ein Laptop über den Köpfen der zwei Hobby-Puppenspielerinnen, die sich deshalb während der Aufführung kaum auf ihren Hockern bewegen dürfen. Aber noch viel mehr ist möglich. Das Gegröle der Betrunkenen und das Gläserklirren vom Band, das Weiß vor zehn Jahren mit Freunden aufgenommen hat, könnten neu vertont werden. Die Technik weiter ausgereizt, Szenen mit Menschen statt mit Puppen gespielt werden. "Es kann, darf und soll Veränderungen geben", sagt Weiß. "Es geht nicht darum, das Stück im Wortsinne, sondern im Geist zu erhalten."

An diesem Samstag wird Gerhard Weiß mit seinem Team das schwarze Bühnenskelett, die selbst bemalten Seitenwände, den Passauer und all die anderen Puppen in seinen VW-Bus laden und zum Stemmerhof fahren, um den Sendlingern diesen Geist zu bringen. Noch hat der 70-Jährige die Energie, das Projekt die ersten zwei, drei Jahre zu begleiten. "Es ist ein Experiment. Ob der Funke überspringt, wissen wir nicht", sagt Gerhard Weiß, legt den Kopf in den Nacken und bläst den Zigarillorauch aus. "Aber wir hoffen es." Zumindest die Vorstellungen sind bereits ausverkauft.

Infoveranstaltung für Mitmach-Interessierte, Samstag, 30. Januar, 16 Uhr, Sendlinger Kulturschmiede, Daiserstraße 22

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