Selbstversuch:München ist vielleicht doch kein Dorf

Selbstversuch: Kennst du die? Manuel mit Anne beim Facebook-Selbstversuch im Substanz. Tatsächlich haben sie eine gemeinsame Freundin.

Kennst du die? Manuel mit Anne beim Facebook-Selbstversuch im Substanz. Tatsächlich haben sie eine gemeinsame Freundin.

(Foto: Robert Haas)

Stimmt es wirklich, dass man in München jeden über ein paar Ecken kennt? Ein Selbstversuch.

Von Manuel Kronenberg

Peng! Ein lauter Knall. Ein Schuss mitten im Olympiapark. Emmanuel hält die Pistole über seinen Kopf. Der Schuss war das Startsignal für die vier Drachenboote, die sich auf dem See ein Rennen liefern. Die Paddler legen sich ins Zeug. In jedem Team sind es 16, und vorne auf dem Bug sitzt ein Trommler. Die Trommlerin im Boot Nummer Drei hat sich in einen Ganzkörper-Haifisch-Anzug geschmissen und heizt die Paddler an.

An einem ganz normalen Freitagnachmittag wäre ich wahrscheinlich nicht gekommen, um mir das Rennen anzuschauen. Aber heute habe ich eine Mission: Ich will etwas über die Stadt herausfinden. Es heißt, dass man jeden Menschen auf der Welt über etwa sechs Ecken kennt. "Small- World-Phänomen" nennt man das. Ich mache mich zwar auf die Suche nach Leuten, die ich über nur eine Ecke kenne.

Meine Methode ist ebenso spaßig wie simpel: Ich ziehe durch die Stadt und schaue, wie viele Leute ich ansprechen muss, bis ich jemanden kennenlerne, mit dem ich gemeinsame Facebook-Freunde habe. Aber sollten in einer Stadt wie München nicht weniger als sechs Zwischenschritte nötig sein? Meine erste Station ist das Drachenbootrennen, das Medizin-Studenten der beiden Münchener Universitäten organisiert haben.

Emmanuel hat seine Pistole inzwischen beiseite gelegt. Er studiert Sportwissenschaften an der TU und macht sofort mit bei meinem Experiment. Ich öffne die App auf meinem Handy: keine gemeinsamen Freunde. Emmanuels Kollege an der Stoppuhr ist gar nicht bei dem Netzwerk angemeldet. Ich gehe weiter am See entlang zur Ziellinie. Einige Paddler stehen am Ufer, sie tragen weiße Overalls mit Strahlenwarnzeichen auf dem Rücken. Zwei Mädchen haben sich mit einem Bier in der Hand unter einem Baum niedergelassen. Ich setze mich dazu. Es sind zwei Erasmus-Studentinnen aus Frankreich. Bei ihnen habe ich auch kein Glück.

Ich versuche es weiter. Nicht bei allen kommt mein Vorhaben gut an. "Ist schon ein bisschen komisch", weist mich eine TU-Doktorandin zurecht. Eine andere dreht mir den Rücken zu. Als mir ein Paddler mit pinken Shorts, rosafarbenem T-Shirt und einer kleinen Krone auf dem Kopf entgegenkommt, rufe ich ihm zu. "Machst du auch mit beim Bootrennen?" Ruben lässt sich auf den Smalltalk ein. Er studiert Medizin an der TU. "Was studierst du?", fragt er mich. "Soziologie," antworte ich. "Dann ist's unwahrscheinlich", sagt er über mein Experiment. "Das ist zu weit weg." Wir schauen nach. Keine gemeinsamen Facebook-Freunde. Mein Vorhaben sei aussichtslos, teilt mir Ruben mit. "Dafür ist München einfach zu groß."

Die Verbindungsketten werden nicht kürzer, wenn man statt der ganzen Welt nur eine Stadt betrachtet, sagt der Soziologe Boris Holzer, der soziale Netzwerke erforscht. Aber dass man jemandem über den Weg laufe, mit dem man einen gemeinsamen Bekannten habe, sei wahrscheinlicher, als man zunächst erwarte, sagt er. Tatsächlich war es diese Alltagsbeobachtung, die die Small-World-Forschung veranlasst hat.

Als Nächstes versuche ich es in der Maxvorstadt. Vor dem Schall und Rauch treffe ich Louis. Mit zwei Freunden steht er vor dem überfüllten Lokal und unterhält sich. Er sei Regisseur, sagt er. Und endlich, bei ihm zeigt der Facebook-Test eine gemeinsame Bekannte. "Jetzt musst du mir auch sagen, woher du sie kennst", sagt Louis. Ich bin kurz verwirrt. Kenne ich die überhaupt? Befreundet seit fünf Jahren, steht da. Ich glaube, ich habe sie einmal auf einem Konzert getroffen. Louis mag sie nicht sonderlich, also sprechen wir bald über andere Dinge.

Es macht Spaß, mit Fremden über Bekannte zu reden. Aber nach Louis bleibe ich erst mal erfolglos. Ich muss irgendwohin, wo ich eher unter meinesgleichen bin, dann habe ich mehr Glück. Soziologe Holzer bestätigt das. In einer Kneipe sei ein bestimmtes Milieu anwesend. "Wenn sich da zum Beispiel alle Zeitungsredakteure versammeln, dann wird's schon wahrscheinlicher." Also steige ich in die U-Bahn und fahre zum Substanz an der Poccistraße: genau mein Geschmack.

In München ist das Dorf auf einer anderen Ebene

Es ist gerade kurz vor elf. Ich bestelle mir Bier und gehe bis nach hinten durch. Ich spreche zwei Jungs am Kickertisch an, aber: Fehlanzeige. Also gehe ich auf zwei Mädels zu, die vor der Bar am Tisch sitzen. Sie sind erst skeptisch. Anne ist noch nicht lange in München, Laura nur zu Besuch. "Probieren können wir es ja trotzdem", sage ich. Und tatsächlich: Mit beiden habe ich dieselbe gemeinsame Facebook-Freundin. Jetzt sind sie doch neugierig geworden und ich bleibe eine Weile bei ihnen sitzen.

Vor der Tür hat sich eine Handvoll Raucher versammelt. Es wird fast unheimlich, denn hier habe ich mit jedem, den ich frage eine oder sogar mehrere gemeinsame Bekanntschaften - fast alle von ihnen machen irgendwas mit Medien. "Das Dorf-Klischee galt schon immer", erzählt mir Boris Holzer. Er war selbst lange Zeit in München. Seine Erklärung: Hier konzentrieren sich vor allem die abendlichen Treffpunkte. Anderswo verteile es sich mehr. "Da hat man dann das Dorf auf einer unteren Ebene, wie in Berlin den Kiez." Abseits der gewöhnlichen Treffpunkte könnte ich also abtauchen.

Ich steige in den Bus und fahre zur Ganghoferbrücke, zum Nerodom, ein Club für die schwarze Szene. Heute ist Mittelalter-Tanznacht. Schon am Eingang bereue ich, hergekommen zu sein. Überall schwarze Klamotten, einige tragen kuriose Kostüme. Und ich mittendrin, in heller Jeans und bordeauxrotem Pulli. Ich fühle mich etwas unwohl. Sicher ruft einer gleich: "Hey, du gehörst nicht dazu. Hau ab!"

Ich laufe die Treppe herab und finde mich in einem dunklen Kellergewölbe wieder. Laute und aggressive Musik kommt aus den Boxen. Ein Ritter kreuzt meinen Weg, sein Mantel weht hinter ihm her. Ein Typ kommt auf mich zu, oben ohne, betrunken. Er drückt mir seine Flasche Met in die Hand. "Hier, probier mal," sagt er. Ich gehorche. Gar nicht so schlecht, aber etwas zu süß. Bald merke ich, dass die Leute hier entspannt sind und meine Sorgen unberechtigt waren.

Mein Handy hängt an der Powerbank, als ich wieder hochgehe auf die Straße - im Keller gibt's kein Netz. Vor dem Eingang stehen zwei Mädels und ein Junge, in Stiefeln und schwarzem Aufzug. Eine von ihnen lacht, als ich von meinem Vorhaben erzähle, und ist sofort dabei. Sie studiert Theaterwissenschaften. Beim Facebook-Test sehen wir: eine gemeinsame Freundin. Gleich beim ersten Versuch.

Gegen halb drei setze ich mich in den Nachtbus nach Hause. Ich denke gerade, dass ich meine Facebook-Kontakte mal ausmisten sollte, da sehe ich zwei Reihen weiter vorne einen guten Freund von mir sitzen.

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