Selbsthilfe:Geteiltes Leid

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Rund 1300 Selbsthilfegruppen sind in München und Umgebung aktiv. Klaus Grothe-Bortlik leistet mit seinem Zentrum Unterstützungsarbeit - ohne sich zu sehr einzumischen

Interview von Günther Knoll

Die "wichtigen Frauen" treffen sich gerade im Raum G 4, daneben betreibt eine Gruppe russische Konversation. Man könnte sagen, Klaus Grothe-Bortlik ist in seinem Element. Der Sozialpädagoge ist seit 2008 Geschäftsführer des Selbsthilfezentrums München, das die Arbeit der einzelnen Gruppen unterstützt. Schon der Eingang mit Klingelknopf zum Selbstöffnen und Kartenlesegerät verrät, dass in dem Haus an der Westendstraße fast ständig etwas los ist. Rund 200 Gruppen halten dort ihre Treffen ab. Am 3. Dezember wird das neue Verzeichnis vorgestellt. Und an diesem Tag wird auch das Ergebnis zur Wahl des Münchner Selbsthilfebeirats bekanntgegeben.

SZ: Brauchen Selbsthilfegruppen denn überhaupt Hilfe?

Klaus Grothe-Bortlik: Ja und nein. Denn die Gruppen organisieren sich ja selbst, sie sollen sich auf demokratischer Basis ihre eigene Struktur und ihre Ziele geben, und niemand soll sich von außen einmischen. Aber sie brauchen auch Unterstützung, etwa in Sachen Gruppendynamik oder Öffentlichkeitsarbeit. Wir können auch koordinierend helfen, wir können Verknüpfungen mit dem sozialen System schaffen. Grundsätzlich wollen wir die Gruppen befähigen, dass sie selbst etwas schaffen.

Wie sieht diese Unterstützung aus?

Sie beginnt mit dem Haus, das wir hier zur Verfügung haben. Es ist eine große Ressource, und es hat den Vorteil der Anonymität, was zum Beispiel bei solchen, die unter Mobbing oder Burnout leiden, wichtig sein kann. Wir regen auch zur Gründung neuer Gruppen an, wenn sich ein neues Thema ergibt, für das es bisher noch keine Selbsthilfe gab und auch die Fachleute überfragt sind. Wichtig ist auch die finanzielle Unterstützung zum Beispiel für Flyer, Referenten, Tagungskosten oder auch Büromaterial. Für den sozialen Bereich gibt es jährlich 340 000 Euro von der Stadt und für den gesundheitlichen Bereich 400 000 Euro von den Krankenkassen. Bei uns sind die Geschäftsstellen für Beratung und Koordinierung angesiedelt, der Selbsthilfebeirat der Stadt begutachtet die Maßnahmen ebenso wie ein runder Tisch der Krankenkassen.

Im Stuhlkreis seine Gefühle preisgeben: für viele eine Überwindung. Trotzdem gibt es immer, mehr auch scheinbar skurile, Selbsthilfegruppen in München. (Foto: Alessandra Schellnegger)

Wie viele Selbsthilfegruppen gibt es eigentlich in München?

So genau wissen wir das nicht, denn es gibt keine lückenlose Registrierung, manche Gruppen wollen ja überhaupt nicht offiziell werden. Aber es gibt alle zwei Jahre eine neue Erhebung, unsere Datenbank wird laufend aktualisiert, im Moment können wir von mindestens 1300 Gruppen in München und der Umgebung ausgehen. Allein das Blaue Kreuz etwa hat ja 50 Ortsgruppen, und auch bei der Krebsselbsthilfe gibt es viele Untergruppen.

Ist Selbsthilfe denn überall möglich und sinnvoll?

Grundsätzlich kann sie natürlich überall unterstützend sein. Seit 30 Jahren gibt es die kommunale Förderung und das Selbsthilfezentrum, in dieser Zeit ist viel passiert und die Bewegung wird inzwischen auch von den Etablierten anerkannt. Fachleute, vor allem Ärzte, haben oft gar nicht die Zeit, sich so intensiv mit Menschen und ihren Problemen zu befassen. Es gibt aber auch Situationen oder Menschen, da passt Selbsthilfe gerade nicht, da hilft vielleicht dann eine Therapie oder eine medizinische Maßnahme. Aber ich bin immer wieder überrascht, was es so alles gibt. Bei uns treffen sich zum Beispiel jetzt Frauen, die von sogenannten Love Scammern im Internet betrogen wurden.

Entstehen noch viele neue Gruppen?

Jedes Jahr bilden sich etwa 20 neu. Man kann es so formulieren: Die Selbsthilfe ist ein Seismograf der Gesellschaft, der Entwicklungen sichtbar macht. Deshalb unterstützt die Stadt München das ja auch stark. Das Frauentherapiezentrum, die Aidshilfe, Eltern-Kind-Gruppen - das alles ist aus der Selbsthilfe entstanden und nicht mehr wegzudenken. Und die Selbsthilfe ist inzwischen so etabliert, dass auch Ärzte bei uns anrufen.

Klaus Grothe-Bortlik leitet seit 2008 das Selbsthilfezentrum. (Foto: Florian Peljak)

Gibt es auch Gruppen, die Sie ablehnen?

Wenn Gewaltverherrlichung oder Rassismus im Spiel ist, dann sagen wir Nein. Auch Parteipolitik oder Religion haben eigentlich bei uns nichts zu suchen. Da gibt es aber Grenzbereiche. Zum Beispiel die vielen Migranten-Selbstorganisationen. Im Kulturbereich zum Beispiel, da kann man das bei manchen Religionen gar nicht trennen. Wir wollen aber keine Religionsausübung in den Gruppen und wir lehnen auch ab, wenn es in den Sektenbereich geht oder wenn einzelne Personen auftauchen, die sich als Medium oder Heilsbringer gerieren. Die Gruppen haben aber ihre Freiheit, und es lässt sich nicht alles überprüfen.

Welche Themen sehen Sie in der Zukunft als wichtige Bereiche für das Zentrum?

Unsere aktuelle Aufgabe besteht darin, die selbstorganisierten Helferkreise in der Flüchtlingsarbeit zu unterstützen, vor allem aber, die Selbstorganisation der Flüchtlinge selber zu befördern. Denn diese sind ja nicht nur Hilfeempfänger, sondern können auch aktiv Handelnde sein, die ihre eigenen Ressourcen nutzbar machen.

© SZ vom 30.11.2015 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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