Sehbehinderung:Plötzlich blind: "Am meisten vermisse ich das Lächeln"

Sehbehinderung: Seit Gregor Cordes blind ist, achtet er viel mehr auf das, was er in seiner Umgebung hört.

Seit Gregor Cordes blind ist, achtet er viel mehr auf das, was er in seiner Umgebung hört.

(Foto: Robert Haas)

Gregor Cordes verliert durch eine Krankheit sein Augenlicht. Lange verdrängt er die Diagnose, doch dann gerät er in eine lebensgefährliche Situation.

Von Ali Vahid Roodsari

Plötzlich liegt Gregor Cordes im Gleisbett der U-Bahn. Unter seinem Körper vibrieren die Schienen, am Brustkorb fühlt er einen stechenden Schmerz. Cordes zögert nicht. Hastig erhebt er sich und tastet nach der rettenden Kante. Mit aller Kraft stemmt er sich nach oben auf den Bahnsteig - in Sicherheit.

Gregor Cordes, 52, erinnert sich noch sechs Jahre später an diese Geschichte. Er steht in der U 6 nach Fröttmaning, seine blauen Augen sind glasig und in die Ferne gerichtet. Auf dem Kopf trägt er eine olivgrüne Cap. An seiner Jeans glänzt eine silberne Gürtelschnalle. In der rechten Hand hält er einen weißen Stock, ohne den er niemals das Haus verlässt. Er führt ihn seit dem Tag mit sich, als er auf das Gleis gestürzt ist. Denn das war der Tag, den er immer gefürchtet hatte. Es war der Tag, an dem ihm endgültig klar wurde, dass er blind ist.

Cordes hatte schon immer eine Sehschwäche, sie war aber lange Zeit kein Problem für ihn. Er war ja nur kurzsichtig. Mit 25 erhielt er dann die Diagnose: Retinitis Pigmentosa (RP). Eine Augenerkrankung, bei der die Netzhaut nach und nach degeneriert. Ein erstes Symptom ist Nachtblindheit. Mit der Zeit kommt es zu einer Kontrast- und Farbblindheit und das Sichtfeld verengt sich. Viele Patienten erblinden. Ein schleichender Prozess, der sich über viele Jahre hinziehen kann.

Für Cordes war die Diagnose ein Schlag. Er hatte seine Ausbildung zum Bankkaufmann erst wenige Jahre zuvor abgeschlossen und befand sich mitten im Berufsleben. Seine Zukunftspläne musste er komplett ändern, Kinder waren keine Option mehr. Die Wahrscheinlichkeit, die Krankheit zu vererben, war zu groß.

Er dachte viel nach. Auch über den Tod: "Irgendwann kommst du nach Hause und siehst, wie deine Eltern in der Küche sitzen und weinen", erzählt er, "da überlegt man sich auch: Wie bringst du dich um?"

Schon im Jugendalter hatte es Anzeichen für seine Erkrankung gegeben: Bei Dunkelheit sah er nichts. Cordes störte sich nicht daran, sondern versuchte, stets vor der Dämmerung zu Hause zu sein. Er hielt es für normal, einen Vergleich mit seinen Mitschülern hatte er nicht: "Ich war damals sehr introvertiert", erzählt er.

Später hatte er dann zwei Autounfälle: Zwar bekam er immer recht, weil er auf der Vorfahrtstraße gewesen war, doch wegen seines verengten Sichtfelds hatte er die Autos wohl gar nicht erst gesehen. Erst als er einen Beitrag über RP im Radio hörte, wurde er stutzig. Nachdem er seinem Augenarzt davon erzählt hatte, schickte der ihn in die Uniklinik nach Kiel. "Ich war 20 Jahre lang zu meinem Arzt gegangen", sagt er. "Und ich musste ihm erst von der Krankheit erzählen, ehe er etwas bemerkte."

Cordes hatte zum Zeitpunkt der Diagnose nur zehn Grad Gesichtsfeld übrig. Ein gesunder Mensch hat 180. Mit der Zeit verblasste sein Augenlicht immer mehr. Zuerst verschwand nach und nach seine Sehschärfe. Als letztes folgte die Farbwahrnehmung. Das war 2008. "Heute erkenne ich gar keine Farben mehr", erzählt er. "Ich sehe nur noch Grauschattierungen."

Sehbehinderung: "Die Tastatur beherrsche ich blind", sagt er und lacht.

"Die Tastatur beherrsche ich blind", sagt er und lacht.

(Foto: Robert Haas)

In einem Mobilitätstraining lernte er unter anderem den Umgang mit dem Blindenstock. Am Tag seines Gleissturzes hatte er seinen Stock zwar dabei - jedoch eingeklappt in der Tasche. Ein wenig konnte er damals ja noch sehen: "Aber ich habe den Stromabnehmer auf der anderen Seite des Gleises für den Sicherheitsstreifen gehalten", erzählt er. "Der Stromabnehmer ist auch hell, daran habe ich mich orientiert."

"13-14-15", flüstert Cordes sich selbst zu. Er steht vor einer Treppe des U-Bahnaufgangs der Station Universität. Seinen weißen Stock hält er in der rechten Hand. Kurz berührt er damit die erste Stufe, ehe er einen Schritt nach oben macht. Der Stock streift an der Wand entlang. Das Kratzen verrät ihm, dass er richtig geht. Nur noch wenige Stufen, dann hat er es geschafft.

Cordes bleibt stehen und lächelt. Sonnenstrahlen scheinen ihm aufs Gesicht. Er spürt gerne die Wärme auf seiner Haut. Dann geht er weiter, den Blindenstock schwenkt er vor sich her: links und rechts und links und rechts. Plötzlich knallt es - ein Laternenpfahl. Er weicht dem Hindernis aus, geht ein paar Schritte, ehe der Stock erneut hängen bleibt.

"Vorsicht, das ist ein Postrad", sagt eine Frauenstimme, "haben Sie sich wehgetan?" Cordes schüttelt den Kopf: "Nein, ist schon gut." Er nickt in Richtung ihrer Stimme und setzt seinen Weg fort. Auf den Straßen gibt es so viele Hindernisse, die ihm das Leben unnötig schwerer machen.

Cordes holt sein iPhone aus der Tasche. Sprachassistentin Siri spricht zu ihm: "Eingang Königinstraße in 20 Metern", sagt sie. Ein Zugang zum Englischen Garten. Eine Straße trennt ihn noch vom sicheren Grün. Er hält inne: Motorengeräusche. Sind sie nah oder fern? Plötzlich sind die Laute weg. Hat das Auto für ihn gestoppt oder ist es woanders hingefahren?

Cordes zögert kurz, überquert dann die Straße. Als sein Stock den Bordstein gegenüber berührt, atmet er erleichtert auf. Hinter ihm ertönen die Geräusche wieder: Das Auto fährt vorbei. Es hatte für ihn angehalten. "Ein netter Fahrer", murmelt er und geht weiter.

Dass ihm die Menschen ausweichen, sieht er nicht

Sehbehinderung: Gregor Cordes findet sich im Münchner Untergrund mithilfe seines Stocks zurecht.

Gregor Cordes findet sich im Münchner Untergrund mithilfe seines Stocks zurecht.

(Foto: Robert Haas)

Eine große Hilfe war es, als Cordes auf Pro Retina, eine Selbsthilfegruppe für Menschen mit Augenerkrankungen, stieß. Der Verein wurde 1977 gegründet und hat heute rund 6000 Mitglieder. Pro Retina bietet psychologische Beratung, organisiert Stammtische und Patiententreffen und klärt über Augenkrankheiten auf. "Sie gaben mir Tipps für die Jobsuche", sagt Cordes.

Noch im Jahr der Diagnose schulte er um: Vom Bank- zum Datenverarbeitungskaufmann. Jetzt kann er am Computer arbeiten. Eine Software liest ihm seine Eingaben vor. "Die Tastatur beherrsche ich blind", sagt er und lacht.

Der weiße Stock kratzt auf dem Trampelpfad im Park. Manchmal ist das Geräusch weich: Hier hat er Gras oder Erde gestreift. Ab und an platscht es, dann taucht der Stock in eine Pfütze. Cordes geht ein wenig nach rechts, er will sich keine nassen Füße holen. Aus seiner Hosentasche sagt Siri, dass es 13 Uhr ist. Cordes geht zurück zur U-Bahn. Er möchte noch zum Marienplatz.

Den Weg zur U-Bahn findet er ohne Mühe. Er ist ihn schon oft gegangen. Falls er eine Linie nicht kennt, fragt er beim Einstieg in die U-Bahn laut nach der Nummer. Genauso macht er es bei Busfahrten. Einmal brauchte er drei Versuche, ehe ihm jemand antwortete. Dabei blieb er die ganze Zeit halb in der Tür stehen und hielt so den Betrieb auf: "Bei so etwas bin ich ganz dreist."

Cordes steigt am Marienplatz aus. Er hält sich entlang der Rillen im Boden. Dass ihm die Menschen am Bahnsteig ausweichen, sieht er nicht. Das System hier mag er besonders gern. Die Rillen folgen einer festen Struktur und verlaufen zentral. Ganz anders ist es am Karlsplatz. Dort sind die Rillen manchmal zentral, manchmal verlaufen sie aber am Rand. Cordes ist damit nicht zufrieden: "Das System ist da völlig durcheinander", sagt er.

In der Kaufingerstraße geht Cordes langsamer als im Englischen Garten. Auch den Stock hält er etwas näher an sich, die Menschen könnten sonst drüber stolpern. "Im C & A ist 50 Prozent Rabatt", hört er ein Mädchen sagen. Seit er blind ist, sagt er, achtet er viel mehr auf Informationen, die er in seiner Umgebung hört.

Cordes ist die Selbsthilfe heute sehr wichtig. In seiner Freizeit engagiert er sich im Bayerischen Blinden- und Sehbehindertenbund (BBSB). Er sitzt im Bezirksausschuss, plant Veranstaltungen mit und organisiert einen monatlichen Stammtisch. Der BBSB hat rund 1550 Mitglieder in der Bezirksgruppe Oberbayern-München. Insgesamt lebten 2015 circa 6000 blinde oder sehgeschädigte Menschen in München.

Um sich fit zu halten, versucht Cordes stets, 600 Stufen am Tag zu steigen, und nutzt dabei jede Gelegenheit: die Treppe auf dem Weg zur U-Bahn oder die Stufen in der Arbeit. Er fährt auch gerne Fahrrad - natürlich nur mit Tandempartner. Cordes ist im Leitungsteam der "Tandemerer", einer Gruppe von Tandem-Enthusiasten, die mit blinden oder sehbehinderten Menschen fahren.

Auch reist er oft, vor allem nach Asien. Er hat sich eine taktile Landkarte der Region gekauft. Im Winter nahm er an einer Indienreise teil, organisiert von "VisionOutdoor", einem Anbieter mit Angeboten für blinde und sehbehinderte Menschen. Cordes schwärmt von Land und Leuten: "Ich habe dort nur gute Erfahrungen gemacht", erzählt er. "Die schlechten habe ich wegen meiner Blindheit vermutlich gar nicht mitbekommen."

Zu Hause holt er als Erstes die Post aus dem Briefkasten. Zunächst öffnet er das Kuvert, dann legt er den Inhalt auf seinen Scanner. Am Computer wandelt er die Datei in ein PDF. Ein Klick auf der Tastatur und schon liest ihm eine Software den Inhalt vor. Drei bis vier Minuten pro Brief dauert dieses Prozedere. "Am meisten hasse ich Werbung, die als Brief verpackt ist", erzählt er. "Das ist verschwendete Zeit."

Cordes weiß, dass er wohl nie wieder sehen wird. Zwar gibt es Netzhautchips und Kameraimplantate, aber die Technik ist noch nicht ausgereift. Seinen Alltag kann er bewältigen. Aber "mir fehlt die Gestik der Menschen. Die Fähigkeit, jemanden nur anhand seiner Körpersprache einschätzen zu können", sagt er. "Aber am meisten vermisse ich das Lächeln."

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